Grenzenlos

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

In den Ferien änet der Grenze in Berlin, Neukölln. Nicht gerade eine privilegierte Nachbarschaft, aber mit internationaler Esskultur. Im Imbiss um die Ecke gibt es zwar kein Bier, aber dafür ­vegane Pizza. Das islamisch geprägte Alkohol­verbot, gepaart mit alternativ-grünem Lifestyle? Vielleicht. Schmecken tut’s allemal.

ZÜRICH, LANGSTRASSE

Im ehemaligen Italo-Quartier führen mittlerweile Kurdinnen und Kurden die Pizzerias. «Und in 20 Jahren denken alle, Köfte sei ein Schweizer Nationalgericht», sagt Filmemacher Samir im grossen work-Interview. In seinem neusten Film erzählt er die Geschichte der Saisonniers aus Italien in den 1960er und 1970er Jahren. Sie brachten die «Italianità» an die Langstrasse. Das sonnige Lebensgefühl, geprägt von Musik, Pizza und Ferien, gehört heute zum Schweizer Alltag. Doch das war nicht immer so. Statt Pizzerias prägten damals Schilder mit «Eintritt für Italiener verboten» die Strassen. Die Saisonniers wurden von den Behörden schikaniert und von Schweizerinnen und Schweizern als «Tschinggen» diskri­miniert. Auch von den Gewerkschaften. Bis diese verstanden, dass die Migrantinnen und Migranten die neue Arbeiterklasse sind. Heute seien sie die einzigen Organisationen, die die Gesellschaft tatsächlich abbilden, ist Samir überzeugt.

DIFFUS

Kulturen durchmischen sich, bis die Grenzen zerfliessen wie Mozzarella auf der Pizza. Den Schweizer Nationalhelden erfand ein Deutscher, die Kartoffel für die Rösti kommt aus Südamerika, den Bergsport brachten die Briten … Der Begriff «Überfremdung» ist hingegen eine Schweizer Erfindung. Er stammt vom Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid. Er befürchtete zu Beginn des 20. Jahrhunderts – kaum war die Schweiz vom Auswanderer- zum Einwandererland geworden –, die vielen «armengenössigen» Fremden könnten die Armenkasse zu arg strapazieren. Der Begriff taucht nach dem Ersten Weltkrieg wieder auf, wird von den Faschisten in der Schweiz verwendet. In den Boom-Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg richtete er sich gegen die Saisonniers, gipfelt in den rassistischen Schwarzenbach-Initiativen. Dann verschwindet er, doch die Bewirtschaftung der diffusen Angst vor dem unbekannten Fremden bleibt. Diese heisst jetzt Masseneinwanderung, Islamisierung, 10-Millionen-Schweiz, Wohnungsnot, Ausländerkriminalität … Auch das zeigt Samir in seiner beeindruckenden Doku. Im grossen work-Interview sagt er: «Die Migration als Grundsatzfrage der Gesellschaft existiert nur bei Rassisten, die dieses Thema bewirtschaften.»

HAARSTRÄUBEND

So, wie es die SVP tut. Zum Beispiel letzte Woche. Das Bundesamt für Migra­tion erfasst seit Anfang Jahr, wenn Asylsuchende sehr hohe Gesundheitskosten verursachen. Wie SRF berichtete, waren dies bisher rund 12 Personen aus Georgien. 12 Personen! Diese Menschen waren teils schwer krank, hatten Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Sie erhofften sich in der Schweiz eine gute Behandlung, wohl aber kein Asyl. Denn im vergangenen und auch in diesem Jahr wurde kein einziges Asylgesuch aus Georgien angenommen. Und was macht die SVP aus diesen tragischen Schicksalen? Sie postet auf Instagram: «Asylanträge zwecks Gratis-Behandlung in der Schweiz. Der Missbrauch im Asylbereich ist haarsträubend – auch Gesundheitstouristen aus Georgien nutzen unser System aus. Was soll die Schweizer Bevölkerung noch alles bezahlen?» Haarsträubend ist, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, weil das Schüren der Angst vor dem unbekannten Fremden gar nie aufgehört hat.

In Berlin, Neukölln, an eine Hauswand gesprayt: «Boarders are a state of mind.» Grenzen existieren nur in unseren Köpfen.

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