Von der Atombombe zum Olympia-Surfen
Höllenritt auf Tahiti

«Paris 2024» wird auch in der Südsee ausgetragen, im französischen Konfetti-Imperium. Das befeuert den Wunsch der Polynesier nach Unabhängigkeit.

KÖNIG DER WELLEN: Kauli Vaast streckt die Arme zum Sieg wie der polynesische Meeresgott Tangaroa. (Foto: Keystone)

Die Welle ist so furchterregend, dass sie einen eigenen Namen hat: «Kiefer von Hava’e» nennen sie die Tahitianerinnen und Tahitianer. Ein mörderischer Kiefer, der schon viele Surferinnen und Surfer zwischen den Wassermassen und dem Korallenriff von Teahupo’o zermalmt hat. Auf diesem Riff türmt sich der anstürmende Pazifik an manchen Tagen über 4 Meter hoch und bildet lange, tiefe Tunnel. Manche nennen den Spot auch «die Mauer der Schädel», Quelle wilder Surfer-Legenden. Am 6. August tauchte ein Mann auf seinem Brett in diesen Tunnel und erschien wieder nach einem langen Ritt auf der Flucht vor der einstürzenden Welle, die Arme hochgestreckt wie der polynesische Meeresgott Tangaroa: Kauli Vaast, 22, hatte gerade die Surf-Goldmedaille der Olympischen Spiele «Paris 2024» gewonnen, 16 000 Kilometer von Paris entfernt. Für Tahiti. Für Frankreich auch, denn Tahiti gehört zu «Französisch-Polynesien».

Vaasts Finalgegner hatte keine Chance. An diesem Tag zeigte sich die Welle nur dreimal. Zweimal für Kauli. Nach dessen Höllenritt hatte der Pazifik genug gegeben, er lag nun faul und friedlich. Glück für Vaast sagen die einen. Der Ozean hat sich seinen Bezwinger ausgesucht, halten die Tahitianer dagegen. Sie sind Leute des Meeres. Polynesier waren vermutlich die ersten Seefahrer der Welt. Vor Tausenden von Jahren besiedelten sie, Südchina verlassend, das heutige Ozeanien, von Neuseeland und den Osterinseln bis nach Madagaskar.

MANN DES MEERES: Kauli Vaast reitet die Welle nicht nur, er fühlt sie. (Foto: Keystone)

Vaasts Vorname Kauli bedeutet «der, der in den Ozean geht». Er habe die «Mana» gespürt, sagte er nach dem Sieg, die spirituelle Energie der Inseln. Er ist hier aufgewachsen, die Wellen von Teahupo’o ritt er schon als kleiner Junge. Sein Vater stammt aus Nordfrankreich, die Mutter aus Neukaledonien.

Die Vahiné, strahlend radioaktiv

Mit Tahiti verbinden viele Franzosen feuchte Südsee-Exotik, die barbusigen Frauen («Vahiné») der Malerei von Gauguin oder die Meuterei auf der Bounty. Die Einheimischen denken umgekehrt eher an koloniale Last und radioaktive Verseuchung. Tahiti gehört zu den 118 Inseln und Atollen, die über 5,5 Millionen Quadratkilometer und zwei Zeitzonen verstreut, Französisch-Polynesien bilden. Sie sind die Reste des französischen Kolonialreiches, neben Neukaledonien, Mayotte, La Réunion, Französisch-Amazonien (Guyane) und den Antillen-Inseln Martinique und Guadeloupe. 1963 erzwang Paris, dass die UN Neukaledonien und Polynesien von der Liste jener Gebiete strich, die entkolonialisiert werden sollten. Und im selben Jahr verlegte Frankreich seine Atombombenversuche aus der algerischen Sahara in den Pazifik (Algerien hatte kurz zuvor unter grossen Opfern seine Unabhängigkeit erkämpft).

DIE HÖLLE IM PARADIES: Einer der vielen Atombombentests der Franzosen im Pazifik. (Foto: Keystone)

Moetai Brotherson, der kürzlich gewählte Präsident der «Region» Polynesien, zählt 30’000 Opfer dieser Bombentests, die bis 1996 dauerten. Also rund ein Drittel der Bevölkerung. Gewisse Krebsarten sind noch immer endemisch, Genetiker konstatierten Veränderungen im Erbgut der Insel-Bevölkerungen. Genaueres ist militärische Verschlusssache. Brotherson nennt es «die nuklearen Schulden» Frankreichs.

PRANGERT AN: Der Präsident Polynesiens, Moetai Brotherson, findet deutliche Worte für das, was Frankreich „seiner“ Bevölkerung angetan hat. (Foto: Keystone)

Als Paris seine Pläne für das Olympia-Surfen in Teahupo’o enthüllte, setzte es Widerstand. Der Ort ist bei Wellenreitern schon lange beliebt. Doch gab es dort weder Hotels noch touristische Infrastrukturen. «Paris 2024» brachte nun aber Bauten für Athleten und Medien, ein Kommandozentrum, eine Marina und einen Turm für Preisrichter und TV-Kameras weit draussen ins Korallenriff gebohrt. Schwere Umweltschäden sind programmiert. Brotherson sprach bei Präsident Emmanuel Macron vor. Der simulierte Verständnis, aber Genietruppen der Fremdenlegion schufen derweil betonierte Fakten.

Kobalt und Monopoly-Geld: Der koloniale Fakt

Frankreich will von seinen Überseebesitzungen nicht lassen, Paris sieht sich immer noch als pazifische Macht, militärisch wie ökonomisch. Auch wenn überall die Revolte gärt. Neukaledonien, wo Frankreich sein Nickel holt, ist seit Monaten im offenen Aufruhr. In Papeete, der Hauptstadt Tahitis und Polynesiens gewann die Unabhängigkeitspartei Tavini Huiraatira von Brotherson die Regionalwahlen, im vergangenen Juli auch die Parlamentswahlen. Doch Macron späht auf die Tiefseebodenschätze in den riesigen Hoheitsgewässern, besonders auf Kobalt und seltene Erden. Die Anspannung steigt. Antikolonialisten aus allen Teilen des Konfetti-Imperiums haben sich zu einer Koalition zusammengeschlossen.

BILD DES WIDERSTANDS: In Neukaledonien wehrt sich die Bevölkerung gegen Macrons Ausbeutung. (Foto: Keystone)

Die Tahitianer suchen erst einmal die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Dafür hat Tavini Huiraatira ein starkes Programm, mit Sonnenenergie, Datenverarbeitung, Landwirtschaft, ökologischem Tourismus. Vor 1960 war Tahiti autark, exportierte gar Lebensmittel in den ganzen asiatischen Raum. Heute hängen sie zu 90 Prozent von Frankreich ab, mit einem «Pazifischen Franken» als Währung. Brotherson nennt es einen «modernen kolonialen Fakt» der «administrierenden Macht» (Frankreich) und fordert dringend die Tilgung der «nuklearen Schuld».

Vorläufig kann sich Tahiti über die Goldmedaille von Kauli Vaast freuen. Im Achtelfinal hatte er den letzten US-Amerikaner aus dem Rennen geworfen. Eine alte Fehde scheint entschieden. Vaasts Vater:

Es zeigt sich einmal mehr, dass wir die Heimat des Surfens sind und nicht Hawaii.

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