Nach Gräueltat an einer jungen Ärztin
Sexualmord hat in Indien eine feministische Welle losgetreten

Nach der Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Ärztin an ihrem Arbeitsplatz stellt sich Indiens Frauenbewegung neu auf. Der radikal-hinduistische Premier Modi gerät in die Defensive.

ERSTARKT: Die Frauenbewegung in Indien mobilisiert energisch wie nie zuvor. Das Bild stammt von einem Protestmarsch am 21. August in Kolkata. (Foto: Keystone)

Sie fanden sie tot und verstümmelt im Sitzungszimmer des privatisierten Uni-Spitals von Kolkata (früher Kalkutta, seit 2001 umbenannt). Die 31jährige Ärztin, von ihren Kolleginnen und Kollegen als «absolut brillant» beschrieben, wollte sich dort nach einer 36-Stunden-Schicht etwas ausruhen; das Spital hat keine Ruheräume fürs Personal. Sie wurde vergewaltigt und ermordet.

Typisch für viele solcher Taten in Indien war die extreme Gewalt des Überfalls. Die Frau sollte nicht nur genötigt, sondern vernichtet werden. Ein Mann vom Ordnungsdienst des Spitals wurde festgenommen. Doch die Eltern des Opfers vermuten eine Gruppenvergewaltigung.

Die Nacht zurückerobern

Nachdem der Spitaldirektor den Sexualmord auch noch kleinreden wollte, antworteten Ärztinnen und Pflegende im ganzen Land mit Streik. In Kolkata zogen mehrere Tausend Frauen protestierend vor das Krankenhaus. Die Polizei knüppelte sie nieder. Dann griff ein bewaffneter rechtsextremer Mob die streikenden Medizinleute an und verwüstete das Spital. Doch das Feuer war nicht mehr zu stoppen: In der Nacht danach demonstrierten Frauen in 43 Städten unter dem Motto «Women, Reclaim the Night» (Frauen, erobern wir die Nacht zurück).

DIE ANTWORT DER REGIERUNG: Protestierende sind in Indien immer wieder mit Polizeigewalt konfrontiert. (Foto: Keystone)
DIE BOTSCHAFT: «Frauen, erobern wir die Nacht zurück». (Foto: Keystone)

Gewalt gegen Frauen ist für die aufsteigende Weltmacht (bald 1,5 Milliarden Menschen) der Elefant im Raum. Das staatliche Büro für Kriminalitätsstatistik zählte 2022 mehr als 445 000 Fälle von Gewalt gegen Frauen, davon 31 516 Vergewaltigungen – 90 jeden Tag. Aber diese Zahlen täuschen. Sogar die Statistiker selbst vermuten, dass 80 oder gar 90 Prozent der Gewalttaten nie zur Anzeige kommen. Denn die Opfer werden stigmatisiert, und sie fürchten den Gang aufs Polizeirevier (viele Täter sind Polizisten). Mitgift- und Ehrenmorde werden als Unfälle vertuscht, Säure-Attacken als Ungeschick. Prozesse werden oft auf viele Jahre hinausgeschoben. Von Gewalt in der Ehe erst gar nicht zu reden: In Umfragen gaben mehr als die Hälfte der Inder und Inderinnen an, Schläge und mehr seien in einer Ehe normal. Die Autorin Deepa Narayan notierte schon 2018:

Der Missbrauch von 650 Millionen Frauen und Mädchen in Indien ist das weltweit grösste Verbrechen gegen die Menschenrechte.

Manchmal werden die Täter gar als Helden des Hinduismus gefeiert, wie die elf Vergewaltiger, die bei einem Anti-Islam-Pogrom eine schwangere Muslimin missbraucht und deren Familie massakriert hatten. Diesen Pogrom von 2002 mit mehr als 2000 Toten hatte der heutige Regierungschef, der rechtsextreme, radikal-hinduistische Narendra Modi, losgetreten.

Grösste Autokratie der Welt

2014 haben Modi und seine Partei BJP dann landesweit die Macht erobert. Mit hinduistisch-nationalistischen Hassreden treibt Modi seine Anhänger und die Paramilitärs der BJP immer wieder zu Übergriffen an. Schritt um Schritt hat er die «grösste Demokratie der Welt» zur Autokratie umgebaut. Von westlichen Regierungen wird Modi, der seine Yoga-Streams zur politischen Waffe gemacht hat, regelmässig mit höchsten Ehrungen bekränzt.

Als kürzlich der indische Industriemogul Mukesh Ambani (Gas, Öl, Chemie), ein enger Vertrauter Modis und einer der reichsten Männer der Welt, eine dreitägige, 150-Millionen-Dollar-Hochzeit für seinen Sohn ausrichtete, waren unter den Ehrengästen Facebook-Zuckerberg, Ivanka Trump, Tony Blair, Boris Johnson, Rihanna, diverse Bankster, der CEO von Samsung usw. Und aus Brig VS der Fifa-Boss Gianni Infantino samt Frau und Töchtern in indischer Tracht. Frauen-, also Menschenrechte, wiegen wenig, wenn es um Profit geht.

DER LOCKRUF DES GELDES: Modis enger Vertrauter Mukesh Ambani hat zur Hochzeit seines Sohnes viel westliche Prominenz nach Indien gelockt, wie hier etwa der frühere britische Premierminister Tony Blair und seine Frau Cherie Blair. (Foto: Keystone)

Koloniales Kastensystem

Männlicher Gewalt häufiger ausgesetzt sind, neben den Musliminnen, die unteren Schichten der Gesellschaft, vorab die Dalit (Kaste der «Unberührbaren»). Dalit-Frauen gelten als Freiwild. Versuchen sie ausnahmsweise, einen Vergewaltiger aus einer höheren Kaste vor Gericht zu bringen, werden die Verfahren meist schubladisiert. Da bleibt nicht mehr viel von Taj-Mahal-Romantik, Bollywood und Kamasutra.

Doch Kasten, die erst von den britischen Kolonialisten zu einem brutal-effizienten System der Herrschaft gemacht wurden (u. a. durch Erfindung neuer Kasten), sind nur ein Element der widersprüchlichen indischen Realität. Eigentlich sprechen wir über einen Kontinent mit 28 Staaten, zahlreichen Sprachen und Kulturen. Da treffen die Feudalprinzen in Palästen auf KI-Pioniere in Privatjets. Rechtslose Landarbeiter auf gewerkschaftlich organisierte Stahlarbeiter und die neuen globalen Klickproletarier der Vorstädte. Verelendete Bauern auf das Elend der Megalopolen wie Delhi (28 Millionen). Die missbrauchte Dalit-Frau auf die maoistische Guerillera aus Kerala. Zusammengefasst:

Indien ist geprägt von riesigen Klassenunterschieden, hinduistischem Wahn und Neoliberalismus.

Der neue Männlichkeitswahn

Wie im Westen, wo die Femizide ebenfalls zunehmen, hat die Kombination von Arbeitslosigkeit, neoliberaler Vernichtung von Sicherheiten und neofaschistischer Propaganda einen neuen Männlichkeitswahn angetrieben, der die Schuld am Elend der Männer nicht dem verschärften Kapitalismus, sondern den Frauen zuschreibt. Es ist die Ideologie, die den Rückfall in dumpfe patriarchalische Herrschaftsansprüche rechtfertigt, Gewalt inklusive.

Doch seit 2022 hat das Land eine Präsidentin, Draupadi Murmu. Indien führte das Frauenstimmrecht (1950) lange vor der Schweiz ein, dank einer starken Frauenbewegung, die eine zentrale Rolle im Unabhängigkeitskampf gegen die Briten spielte, um Köpfe wie Sarojini Naidu und Hansa Mehta.

MÄCHTIGE FRAU: Sarojini Naidu (rechts, 1879 bis 1949) war eine Schlüsselfigur der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Das Bild zeigt sie im Jahr 1947 mit Lady Mountbatten, welche die Aufgabe hatte, Indiens Unabhängigkeit von Grossbritannien vorzubereiten. (Foto: Keystone)

In einigen Teilstaaten im Süden Indiens prägen matriarchalische Elemente die Gesellschaft. Die Rechte der Frauen sind vorangekommen, etwa in der Erbteilung. Hingegen halten heute Frauen nur gerade 13 Prozent der Parlamentssitze. Die selektive Abtreibung weiblicher Föten ist eine gängige Praxis – sie hat zu einem starken Männerüberschuss geführt. Und die Gewalt steigt sprunghaft, seit Modi im Amt ist. Darum nennt die britisch-amerikanische Stiftung Thomson Reuters Indien «das gefährlichste Land der Welt für Frauen», noch vor so gruseligen Ecken wie Nachbar Afghanistan oder Somalia.

Neue feministische Welle

Nach dem Sexualmord von Kolkata  könnte all dies passé sein. Nie war die Mobilisierung so energisch. Erstens, weil sich die grausamen Fälle häufen. Unlängst wurde eine spanische Touristin von sieben Männern vergewaltigt. Sie stellte ihre Klage auf Instagram, was einen Dammbruch von Wortmeldungen indischer und ausländischer Opfer auslöste. Zweitens, weil sich von der Bluttat im Spital die neue, globalisierte Mittelschicht betroffen fühlt. Die Gemeuchelte war keine Dalit und auch keine Prekäre aus den Elendsvierteln von Mumbai oder Delhi, sondern eine der ihren. Diese Mittelschicht hat an politischem Einfluss gewonnen, wie die Wahlen im Frühjahr 2024 zeigten: Die übermächtige BJP erlitt starke Verluste. An den Demonstrationen nach dem 9. August beteiligten sich auch viele Männer.

VERLIERT AN RÜCKHALT: Die Macht des rechtsextremen Regierungschefs Narendra Modi gerät durch die jüngsten Proteste ins Wanken. (Foto: Keystone)

Modi verteidigt, wie alle Rechtsextremen, verbal die Rechte der Frauen, schützt in Wahrheit aber die Täter. Nun organisiert sich die Frauenbewegung neu, Sprecherinnen rufen zur Einheit auf. So sagte etwa die populäre Tänzerin und Feministin Manisha Rani, die auf Leinwänden und in den Plappermedien omnipräsent ist, zum Unabhängigkeitstag am 15. August:

Wahre Unabhängigkeit haben wir erst, wenn sich jede Frau in diesem Land sicher und frei fühlt.

Dieser Mord «ist ein Weckruf an alle Frauen, jetzt gemeinsam zu kämpfen». Für soziale Gerechtigkeit, Erziehung und Ausbildung, fügt sie noch an. Oder wie eine Demonstrantin in Kolkata in Anspielung an einen Filmtitel auf ihren Karton schrieb: «Lasst uns den Tiger reiten!»

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