Run auf Lernende: 10 000 Lehrstellen sind noch unbesetzt
So buhlen Unternehmen um den Nachwuchs

Über 60 000 Jugendliche sind Anfang August in die Lehre gestartet. Doch über 10 000 Stellen bleiben ­unbesetzt. Deshalb locken manche Unternehmen mit höheren Lehrlingslöhnen, Fitness-Abos und Tiktok-Videos.

BRANCHE MIT NACHWUCHSPROBLEM: In der Metall- und Maschinenindustrie blieben diesen Sommer knapp 30 Prozent der Lehrstellen unbesetzt. (Foto: Keystone)

Als «einmalig in der Welt» und «vorbildhaft» wird das Zusammenspiel von Unternehmen, Lernenden und Berufsschulen gerne bezeichnet. Doch seit einigen Jahren suchen viele Betriebe verzweifelt nach Nachwuchs, denn auch bei den Lernenden herrscht Fachkräftemangel.

DIESE BRANCHEN SIND UNBELIEBT

Am beliebtesten bei den über 60 000 Jugendlichen, die im August ihre Lehre begonnen haben, sind auch dieses Jahr KV- und Informatik-Lehren. In anderen Branchen konnten erneut über 10 000 Lehrstellen nicht besetzt werden. Gemäss dem Berufsbildungsportal Yousti waren im Detailhandel noch 670 Stellen unbesetzt. Bei den Elektroinstallateuren, einer wichtigen Berufsgruppe für die Energiewende, fehlen in der Schweiz 426 Lernende. Auch in der Baubranche (34 Prozent), in der Metall- und Maschinenindustrie (29 Prozent) und in der Gastronomie (27 Prozent) bleiben überdurchschnittlich viele Lehrstellen offen.

ZÜCKERLI FÜR ANGEHENDE METZGER

Betriebe wie das Bauunternehmen Marti AG in Zürich reagieren mit Tiktok-Videos und speziellen Ausbildungscamps für die Lernenden. Der Grossmetzger Bell in Basel richtet mit der grossen Kelle an: Der Lohn aller Lernenden beim Coop-Tochterunternehmen steigt um etwa 30 Prozent. Im ersten Lehrjahr beträgt der Lohn damit neu 1000 Franken, danach erhöht er sich pro Jahr um 200 Franken. Ausserdem gibt es eine zusätzliche, siebte Ferienwoche, ein SBB-Generalabonnement und ein Fitness-Abo. Mit diesen Goodies konnten zusätzliche Lernende gewonnen werden.

Doch die Löhne in den meisten Lehrbetrieben bleiben tief: Eine Elektroinstallateurin erhält im ersten Lehrjahr gerade mal 600 Franken im Monat, bei einem Coiffeur sind es in manchen Fällen sogar nur 400 Franken. Die Juso fordert, dass alle Lernenden in der Schweiz einen Mindestlohn von 1000 Franken erhalten. Neben den Löhnen ist auch die Betreuung häufig nicht angemessen, und neun von zehn Lernenden empfinden Stress am Arbeitsplatz, das zeigte jüngst eine Umfrage der Unia (work berichtete). Um die duale Berufsbildung wieder attraktiv zu machen, brauchen die Jugendlichen auch langfristige Berufsperspektiven: Dazu gehören auch gute Gesamtarbeitsverträge mit anständigen Löhnen. Deshalb fordert die Unia: keine Löhne unter 5000 Franken für Menschen mit abgeschlossener Berufslehre.

workzahl: 84 Prozent

der Lernendem, die an der grossen Unia-Umfrage teilgenommen haben, verdienen im 1. Lehrjahr weniger als 1000 Franken pro Monat.


Lehrstart bei der Unia in Bern:«Eine ganz andere Welt»

Mary Tharmina John ­(20) hat diese Woche ihre ­Lehre als Kauffrau bei der Unia begonnen. Sie hat ­bereits eine Ausbildung als ­Detailhandelsfachfrau bei Coop ­gemacht und sich jetzt für ei­ne zweite Lehre ­entschieden.

ZUVERSICHTLICH: Mary Tharmina John macht ihre zweite Ausbildung.

work: Wie ist der Eindruck nach der ersten Woche im Lehrbetrieb?
Mary Tharmina John: Die Atmosphäre ist im Vergleich zum Detailhandel ganz anders. Es geht viel mehr um Kopfarbeit, im Gegensatz zu der sehr körperlichen Arbeit im Detailhandel. Da musste ich oft viele Stunden stehen. Und an gewissen Tagen arbeitete ich von 7 bis 20 Uhr. Es war auch immer sehr laut, und hier im Büro ist es still, das ist eine ganz andere Welt.

Kannten Sie die Unia, bevor Sie hier begonnen hatten?
Ich hatte schon von der Unia gehört. Aber ich wusste nicht genau, was die Aufgaben der Gewerkschaften sind. Da beginne ich jetzt gerade mehr davon zu verstehen.

Ein wichtiges Thema für die Gewerkschaften sind auch die Löhne. Wie viel verdienen Sie hier im ersten Lehrjahr?
Ich verdiene etwa 850 Franken pro Monat. Zwei Tage pro Woche bin ich in der Schule und drei Tage hier im Lehrbetrieb. Ab September werde ich dann in der Kommunikationsabteilung der Unia arbeiten.

Es ist Ihre zweite Lehre, was ist anders?
Es hat sich einiges verändert. Jetzt gibt es keine spezifischen Fächer mehr in der Berufsschule, sondern es geht um Kompetenzen. Mir ist es wichtig, dass ich beim Lernen keinen Stress habe.

Und was erwarten Sie von dieser Lehre?
Ich möchte mein Wissen im kaufmännischen Bereich erweitern, und ich denke, dass mir durch diese Lehre mehrere Türen offenstehen. Ich hoffe, dass ich ein gutes Ausbildungsprogramm und ein unterstützendes Team um mich haben werde.

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