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Spielgruppenleiterin Hülya Muhterem Genis (62): «Ich bin eine Kämpferin»

Vor dreissig Jahren ist Hülya ­Muhterem Genis aus der Türkei in die Schweiz geflüchtet. Seitdem hilft sie Kleinkindern, Deutsch zu lernen. Und Frauen und Migrantinnen, sich für ihre Rechte starkzumachen.

DIE SPIELGRUPPENLEITERIN Hülya Muhterem Genis (62) spricht die Sprache der Kinder – und die Sprache der Revolution. (Foto: Matthias Luggen)

Zwei Herzen schlagen in Hülya Muhterem Genis’ Brust: Ein politisches. Und eines für Kinder. Das zweite spürt man sofort, wenn sie nach ihrem Arbeitsmorgen in der Spielgruppe Wurzelzwerg um die Ecke des ­Cafés Hueber im Berner Quartier Holligen eilt. Da kommt Energie, da kommt ein offenes Lachen, da kommen grosse Gefühle. Eigenschaften, auf welche die gebürtige Türkin in ihrem Beruf baut: «Ich kann mich gut in die Kinderwelt eingeben. Manchmal fühle ich mich selbst wie eines», sagt die 62jährige lachend.

Seit fast 20 Jahren arbeitet Genis mit Kleinkindern. Dies hat sich auf ihre Sprache ausgewirkt. Sie redet in kurzen Sätzen, mit einfachen Wörtern und braucht auch mal die Hände, um sich zu verständigen. «Kinder drücken sich über Gefühle aus. Diese Sprache beherrsche ich besser als Deutsch», sagt sie. Insbesondere in ihrer Zeit bei der Integrationsstelle ISA hat sie die nonverbale Kommunikation perfektioniert. Dort hat sie sich als Gruppenleiterin um Migrantinnenkinder gekümmert. Damit die Mütter und Väter Deutsch lernen konnten.

MIT HÄNDEN UND FÜSSEN

Jeden Tag strömten Dutzende Kinder aus aller Welt in die Räumlichkeiten im Zentrum von Bern. Aus Syrien, Rumänien, Afghanistan – aber auch aus Eritrea, Sri Lanka oder der Türkei. Eines verband sie alle: Sie sprachen kein Wort Deutsch. «Die ersten Stunden waren für die Knirpse schwierig. Sie verstanden nur Bahnhof», so Genis. Mit Handzeichen, Augenkontakt und viel Gefühl führten Genis und ihr Team die Kleinen an ihre ersten Wörter heran. Meist dauerte es nicht lange, und schon kamen diese wie von selbst. «Wir feierten jeden Laut!» erinnert sich Genis.

15 Jahre arbeitete die Mutter einer Tochter bei der Migrationsstelle. In dieser Zeit hat sie über 7000 Kinder begleitet und ihnen den Einstieg in der Schweiz erleichtert. Dann wurde das Angebot vor drei Jahren gestrichen. Sparmassnahmen. «Dafür habe ich null Verständnis! Sprache ist der wichtigste Baustein für eine gelungene Integration – und gerade bei Kindern ist der ­Hebel gross – die sind so offen und lernbegierig! Da wird auf dem Buckel der Falschen gespart», regt sich Genis auf.

IN DER POLITIK

Und da hört man das zweite Herz in ihrer Brust pochen. Dasjenige, das sich für Gerechtigkeit einsetzt. Und Gleichberechtigung. Genis: «Ich bin seit je ein politischer Mensch.» Bereits als Jugendliche ging sie in Istanbul auf die Strasse. Engagierte sich politisch. Wehrte sich gegen das Regime. Nach dem Militärputsch in den Achtzigern lebte sie noch zehn Jahre im Untergrund – bevor sie in die Schweiz flüchtete.

In Freiburg begann sie ein Psychologiestudium und wurde noch während des Studiums schwanger. Kaum war das Kind auf der Welt, starb ihr Mann. «Das war eine Katastrophe; die schwierigste Zeit in meinem Leben», sagt sie mit stockender Stimme, ihr sonst so allgegenwärtiges Lachen verstummt. Nachdenklich fügt sie an: «Zum Glück habe ich einen starken Charakter.»

Daraufhin musste sie ihre Studienträume begraben und liess sich stattdessen zur Spielgruppenleiterin ausbilden. Gleichzeitig wurde sie bei der Unia aktiv. Heute ist Genis in ihrer Region Präsidentin der IG Feminismus und setzt sich für Frauen und insbesondere Mi­grantinnen ein. Sie selbst kennt das Gefühl der Zerrissenheit, der Diskriminierung auch: «Wir sind viel eher von Armut betroffen!» betont Genis. Zwar hat die 62jährige nach ihrem Jobverlust bei der ISA sofort wieder eine Stelle gefunden. Jedoch mit grossen Lohneinbussen. Bei der ISA verdiente sie 45 Franken in der Stunde. Bei der Spielgruppe Bethlehem sind es 30 Franken.

Dazu kommt: «Wegen meiner Tochter habe ich nur 50 Prozent gearbeitet. Zum Glück erhalte ich die Witwenrente und habe eine günstige Genossenschaftswohnung. So geht es unter dem Strich auf», erzählt Genis. Ihre Tochter ist mittlerweile 30 Jahre alt – und tritt in die politischen Fussstapfen ihrer Mutter: Helin Genis (das work-Portrait hier) ist heute in der SP aktiv und für die Stadtratswahlen im Herbst nominiert. «Ich drücke ihr auf jeden Fall die Daumen!» sagt die stolze Mutter lachend.

VOR DEM RUHESTAND

Während ihre Tochter aufdreht, nimmt Hülya Genis Tempo raus. Wenigstens im Beruf. In der Spielgruppe Wurzelzwerg arbeitet sie nur noch wenige Tage. Nach den Sommerferien wird das Team ohne sie auskommen müssen. «Ich lasse mich pensionieren. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge», sagt sie. Vermissen wird sie die Kinder und das Herumtollen im Bremgartenwald, wo sie mit der Waldspielgruppe an vier Vormittagen pro Woche unterwegs war.

Jedoch freut sie sich auch auf mehr Zeit. Auf das Reisen. Angst, dass ihre zwei Leidenschaften zu kurz kommen, hat sie nicht. «Im Quartier allein wohnen über 100 Kinder! In unserem Siedlungschat werden immer wieder Hüetis gesucht.» Und die politische Arbeit behält Hülya Genis eh bei. Sie setzt sich weiterhin für mehr Lohn, für mehr Respekt, für mehr Gleichberechtigung ein. «Ich bin eine Kämpferin. Ich werde mich bis zum letzten Herzschlag für eine bessere Welt starkmachen!»


Hülya Muhterem GenisReisen, Lesen, Kochen

Mit 62 Jahren hat Hülya Muhterem Genis sich die Pen­sionskasse aus­bezahlen lassen: insgesamt 15 000 Franken hat sie dort angespart. Die Hälfte davon investiert sie in einen lange gehegten Traum: eine Reise nach China und Tibet. Einen Monat lang wird sie durch die Länder reisen, sich mit Händen und Füssen verständigen – und die fremde Kultur einsaugen. «Das Reisen ist der einzige Luxus, den ich mir gönne!»

KOCHEN. Wenn sie nicht unterwegs ist, liest Hülya gerne. Mindestens eine Stunde täglich verbringt sie hinter Büchern oder der Zeitung. Zudem schwingt sie gerne den Kochlöffel. Gerne asiatisch, doch Freunde verlangen oft Gerichte aus ihrer türkischen Heimat. Auch Kebab. Aber natürlich nicht so, wie es hierzulande an jeder Essensbude serviert wird: «Kebab ist nicht gleich Kebab!» stellt Hülya Genis lachend klar.

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