Sabotage gegen die Mindestlohninitiative?
Berner Stadtkanzlei «verliert» 1600 Unterschriften!

In der Berner Stadtkanzlei verschwindet fast ein Drittel aller Unterschriften für die Mindestlohninitiative. Jetzt stellt das Initiativkomitee Forderungen – und droht der Stadt mit rechtlichen Schritten.

WO SIND SIE HIN: Irgendwo im Berner Erlacherhof, wo die Stadtkanzlei ihren Sitz hat, sind zahlreiche Unterschriften für die Mindestlohninitiative plötzlich nicht mehr auffindbar. (Foto: bern.ch / Montage: work)

UPDATE: Sammelfrist wird verlängert, Initianten prüfen Klage

Update vom 24. September 2024: Die Berner Stadtregierung reagiert auf das mysteriöse Verschwinden von 1600 Unterschriften für die Mindestlohn-Initiative in der Stadtkanzlei. Sie hat entschieden, die Sammelfrist vom 1. November auf den 15. Januar 2025 zu verlängern. Das Initiativkomitee hatte verlangt, die 1600 Unterschriften seien für gültig zu erklären. Da die Stadt dem nun nicht nachkommt, prüft das Komitee eine Staatshaftungsklage. Der entstandene Schaden für die Initiative und die direkte Demokratie werde mit der Fristverlängerung allein bei weitem nicht ausgeglichen. Alle Berner Stimmberechtigten sind aufgerufen, die Initiative erneut zu unterzeichnen (über diesen Link).

Vom Fake-Unterschriftenskandal hat sich die Schweizer Politlandschaft noch nicht erholt. Doch schon bekommt die Glaubwürdigkeit der direkten Demokratie den nächsten Dämpfer. Denn in der Stadt Bern ist eine ganze Postsendung mit unterzeichneten Unterschriftenbogen «abhanden gekommen». Betroffen ist die Initiative für einen städtischen Mindestlohn von 23.80 Franken. Dies teilte die Stadtkanzlei am 9. September mit. Das betreffende Paket sei vom Initiativkomitee zwar schon am 16. Juli zugestellt worden. Und dies notabene per Einschreiben. Doch danach sei die Sendung nie bei jener Stelle angekommen, die für die Unterschriftenkontrolle zuständig sei.

Stadt allein hätte nichts gemerkt

Besonders peinlich: Bemerkt hatte die Kanzlei ihren Verlust erst letzte Woche. Und dies nur, weil sich das Initiativkomitee, bestehend aus dem Gewerkschaftsbund Stadt Bern und Umgebung sowie sämtlichen Linksparteien der Stadt, über den Stand der Unterschriftenkontrolle erkundigt hatte. Man habe dann aber sofort Nachforschungen eingeleitet, versichert die Stadtkanzlei. Doch bisher sei die Suche «ergebnislos» geblieben. Daher schliesse sie «deliktisches Verhalten» nicht aus.

Hat hier etwa ein radikaler Mindestlohngegner zugeschlagen? Gar eine städtische Mitarbeiterin? Die Stadtkanzlei prüft jedenfalls eine Anzeige gegen Unbekannt und versichert «alles zu unternehmen, um den Schaden in Grenzen zu halten».

Keine Hilfe von kommerziellen Sammlern

Tatsächlich könnte der Verlust gravierende Folgen haben. Denn nach Angaben des Initiativkomitees geht es um 1600 Unterschriften. Das entspricht fast einem Drittel des nötigen Quantums von 5000 gültigen Unterschriften. Und: Die Initiative wurde am 1. Mai 2024 lanciert. Somit endet die Sammelfrist schon am 1. November. Müssen die Initiantinnen und Initianten in den verbleibenden anderthalb Monaten also nochmals einen Sammel-Schlussspurt einlegen?

Für das Initiativkomitee kommt das nicht in Frage. In einer Medienmitteilung schreibt es:

Es darf nicht sein, dass das Komitee völlig unverschuldet gezwungen wird, etwa 30 Prozent der notwendigen Unterschriften ein zweites Mal zu sammeln.

Es sei die Stadt selbst, die die Konsequenzen für ihre Verletzung der Sorgfaltspflicht jetzt tragen müsse. Heisst konkret: Die eingereichten 1600 Unterschriften seien für gültig zu erklären. Zumal man sämtliche Unterschriften vor der Einreichung auf ihre Plausibilität überprüft habe. Ausserdem betont das Komitee, die Unterschriften ohne Hilfe von kommerziellen Dienstleistern gesammelt zu haben.

Komitee: «Jetzt erst recht unterschreiben!»

Weil aber trotzdem rechtliche Abklärungen absehbar seien, müsse die Stadt zudem die Sammelfrist um zwei Monate verlängern. Und um ganz auf Nummer sicher zu gehen, ruft das Komitee die Stadtbevölkerung nochmals dazu auf, die Initiative sofort zu unterzeichnen (über diesen Link).

Was aber, wenn die Stadt diesen Forderungen nicht nachkommt? Für diesen Fall droht das Initiativkomitee mit rechtlichen Schritten gegen die Stadt. Denn eine «derart massive Benachteiligung» und «Schwächung der direkten Demokratie» werde man keinesfalls akzeptieren.

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