Stur wie eine Eselin
Die Wahrheit ist ja bekanntlich ein stark umworbenes, kostbares Gut. Und sieht je nach Blickwinkel sehr unterschiedlich aus.
Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin
«I chume nid drus!» Hand aufs Herz, wer hat das nicht auch schon gedacht angesichts der Zahlen, mit denen Gegner und Befürworter der BVG-Reform jonglieren? Das liegt nicht an unserer Auffassungsgabe, sondern an der Materie. Das Bundesgesetz über die berufliche Altersvorsorge (BVG) ist ein kurios-komplexes Konstrukt. Wer nach der Pensionierung genau wie viel Rente bekommt, lässt sich kaum präzise vorhersagen. Zu Recht sagte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, man solle doch seine Pensionskasse fragen. Denn nur sie könnten berechnen, welchen Einfluss die Reform tatsächlich für jede einzelne Person habe. Eine Schelmin, die denkt, das sei von den Versicherungskonzernen so gewollt …
Trotz Zahlensalat ist klar: Es gibt gute Gründe, die Reform abzulehnen. Sechs davon erklärt work-Autor Clemens Studer. Denn die Reform löst keines der wichtigsten Probleme der zweiten Säule. Der Teuerungsausgleich rückt in weite Ferne, die Ineffizienz und Intransparenz des Systems, von dem ausschliesslich die Versicherungskonzerne profitieren, bleibt bestehen. Und sie bringt uns auch in Sachen Gleichstellung keinen Schritt weiter.
Das Problem der unbezahlten Haus- und Familienarbeit bleibt bestehen. Die Reform wird nicht merklich dazu beitragen, dass sich die Rentenlücke schliesst. Denn noch immer haben Frauen über einen Drittel weniger Rente als Männer, und dies hauptsächlich in der beruflichen Vorsorge. Weil sie häufiger Teilzeit arbeiten und die Familien- und Hausarbeit übernehmen. Was in der AHV über Betreuungsgutschriften abgegolten wird, in der Pensionskasse hingegen nicht.
Was Betreuungsarbeit anlangt, sind die Zahlen klar und unverhandelbar: Rund 259 Milliarden Franken betrug 2020 der Wert der unbezahlten Arbeit der Frauen. Sie leisteten im selben Jahr 60,5 Prozent der unbezahlten Arbeit, die Männer 61,4 Prozent der bezahlten. Dieses Verhältnis verschiebt sich nur langsam, obwohl Frauen heute stärker erwerbstätig sind. Und das neoliberale Wirtschaftsmodell basiert auf der unbezahlten Betreuungsarbeit der Frauen, denn eigentlich beginnt die Wirtschaft am Zmorgetisch und nicht erst am Arbeitsplatz.
Bereits um 1900 forderte die Gynäkologin und Frauenrechtlerin Betty Farbstein Gemeinschaftsküchen mit Köchinnen und Hausarbeiterinnen, die für gute Löhne ganze Wohnblöcke versorgen sollten. Das Amerikanerhaus in Zürich Wiedikon von 1916 ist eines dieser seltenen «Einküchenhäuser». Doch diese revolutionären Ideen vermochten sich nicht durchzusetzen: Noch 1967 hatten die Mädchen im Kanton Bern 600 bis 1000 Stunden mehr Handarbeit als die Knaben. Dafür 140 Stunden weniger Rechnen, 120 Stunden weniger Naturkunde, 160 Stunden weniger Muttersprache! Diesen Zahlen und den Geschichten drumherum widmet sich das neue Buch «Küchengespräche». Und auch der Frage, was uns saubere Küchen, versorgte Kinder und gebügelte Hemden wert sind.