So funktioniert der chinesische Onlineriese
Temu überschwemmt die Schweiz mit Billigware – auf Kosten der Fabrikbüezerinnen

Der Online-Billiganbieter Temu heftet sich hartnäckig an unsere digitalen Fersen und lockt mit ultratiefen Preisen und blitzschnellen Lieferungen. Doch den wahren Preis für die günstigen Produkte bezahlen am Ende die Arbeiter in den chinesischen Fabriken.

IN MASSEN: Kleine Päckli aus China landen täglich zu tausenden in der Schweiz. Temu hat mit seiner aggressiven Preis-Strategie den Markt nochmals neu aufgewirbelt. (Animation: work)

Wann haben Sie zum letzten Mal etwas im Internet bestellt? Vor kurzem erst? Dann ist Ihnen bestimmt aufgefallen: immer und überall erscheint Temu. Um diesen Mega-Player im Versandhandel kommt man einfach nicht herum. Machen wir den Test:

Google-Suche 1: Büromaterial. Von den ersten fünf Treffern sind drei Angebote von Temu.
Google-Suche 2: Hausschuhe. Zwei der ersten fünf Treffer von Temu.
Google-Suche 3: Kleiderbügel. Die Geschichte wiederholt sich.

Auch wer sich auf Social Media bewegt, begegnet Temu zwangsläufig. Entweder sind es Werbeanzeigen, die einem ein Produkt andrehen wollen, oder Influencer, die über ihre neuste Temu-Entdeckung schwärmen. Und wenn Sie Temu erst mal in seine App gelockt hat, ist es so, als würden Sie durch die Gänge eines schwedischen Einrichtungshauses ziehen: Sie kommen mit der Absicht, einen bestimmten Artikel zu kaufen; und am Ende ist der Einkaufswagen mit Dingen gefüllt, von denen Sie im Vorfeld nicht einmal wussten, dass Sie sie brauchen. Was bei Temu hinzukommt: die unglaublich tiefen Preise. Da gibt es Ohrringe für 80 Rappen, eine Smartwatch für 10 Franken und einen Milchaufschäumer für 1.70 Franken. Blinkende Anzeigen versprechen zudem, dass man das billige Zeug nochmals 30 Prozent günstiger erhält, aber man muss jetzt zuschlagen. Sofort!

Billig, billiger, Temu

Die Allgegenwärtigkeit von Temu kommt nicht von ungefähr. Die US-Grossbank JP Morgan Chase schätzt, dass das chinesische Unternehmen jährlich rund 3 Milliarden Dollar in seine Werbung investiert. Mark Zuckerbergs Techunternehmen Meta, dazu gehören Facebook und Instagram, macht rund 10 Prozent seines Werbeumsatzes dank der Billig-Warenhaus-App aus China. Und die Strategie scheint aufzugehen: Temu ist seit März 2023 in Europa aktiv und flutet seither – zusammen mit den Konkurrenten Shein, Ali-Express & Co. – die Schweiz mit Päckchen aus Südostasien. Der «Blick» titelte vor kurzem: «Täglich landen bis zu eine halbe Million Päckli aus Asien in Zürich.» Die Zeitung bezieht sich auf einen «Insider». Experten sind skeptisch, ob die Zahl wirklich so gigantisch ausfällt. Aber das E-Commerce-Beratungsunternehmen Carpathia schätzt den Umsatz, den Temu in seinen ersten neun Monaten in der Schweiz erzielt hat, auf gewaltige 350 Millionen Franken.

ALLGEGENWÄRTIG: Temu investiert Milliarden in sein Marketing, um sein Billig-Warenhaus auf unsere Smartphones zu bringen. (Foto: Keystone)

Temu setzt dabei auf Klein- und Kleinstsendungen. Um die Mehrwertsteuer zu umgehen. Erst ab einem Warenwert von 62 Franken wird eine Sendung in der Schweiz MWSt-pflichtig. Also verteilt Temu die Sendungen in viele kleine Päckli.

Das billige Angebot von Temu ist verlockend, klar. Temu unterbietet mit seinen Preisen praktisch jeden anderen Händler. In Zeiten der krassen Kaufkraftverluste, die wir auch in der Schweiz erleben, vergleichen Büezerinnen und Büezer die Preise halt einmal mehr. Doch das Angebot des virtuellen Billig-Warenhauses hat nicht nur einen Haken, sondern ein ganzes Arsenal davon. Die drei wichtigsten:

Haken 1: Die Qualität

Nein, bei den Temu-Preisen erwartet niemand einen hohen Qualitätsstandard. Aber die Tests, die die Schweizer Konsumentensendung «Kassensturz» durchgeführt hat, zeigen Erschreckendes. Die Macherinnen der SRF-Sendung gaben Schmuck in ein spezialisiertes Labor. Das Resultat: Fünf von sechs getesteten Produkten dürften in der Schweiz gar nicht verkauft werden. Das Labor entdeckte zum Beispiel ein gefährliches Schwermetall, das krebsfördernd ist und Nierenschäden verursachen kann. Getestet wurden zudem Kinderspielzeug und Trinkbecher. Und auch hier: Mehrere der Produkte stellen aus toxikologischer Sicht ein Problem dar. So wurden in einem Trinkbecher verbotene Phthalate entdeckt. Diese Chemikalien können den Hormonhaushalt stören. Ein Test des Norddeutschen Rundfunks hat zudem gezeigt, dass etliche Elektroprodukte die hier geltenden Sicherheitsstandards nicht einhalten.

IM LABOR: Der «Kassensturz»-Test der Temu-Produkte fiel teilweise vernichtend aus. (Foto: srf.ch)

Doch wieso darf Temu Ware in die Schweiz fliegen, die hier gar nicht verkauft werden dürfte? Vereinfacht erklärt: Temu macht mit seinen Direktlieferungen uns Kundinnen und Kunden zu Importeuren. Und da wir die Ware für den Privatgebrauch nutzen, gelten die Gesetze nicht, an die sich eine Händlerin halten muss. Hinzu kommt: Temu ist offiziell gar nicht der Verkäufer der Ware. Das Unternehmen versteht sich als Plattform, auf der über 100’000 chinesische Händler ihre Waren anbieten. Klar, bei Schäden könnte theoretisch der jeweilige Fabrikant belangt werden. Aber als Käuferin einer 10-Franken-Smartwatch in der Schweiz ist es mehr als schwierig, das Produktehaftrecht bei einer Fabrik in China durchzusetzen. Schweizer Händler hingegen sind dem hiesigen Recht unterstellt, Schadensersatzforderungen sind hier eher umsetzbar.

Haken 2: Die Umweltsauerei

Ökologisch gesehen sind die Direktlieferungen an die Kundschaft, wie sie Temu & Co. praktizieren, eine grobe Sünde. Im klassischen Handel wird Ware aus China per Containerschiff nach Europa in lokale Verteilerzentren gebracht. Temu jedoch schickt täglich Abertausende kleine Pakete per Luftfracht in die Schweiz. Und die Rechnung ist simpel:

Wird die Ware per Flugzeug transportiert, verbraucht dies 50 Mal mehr Treibstoff, als wenn sie per Schiff nach Europa käme.

Aber eben, es muss schnell gehen. Temu bietet den Kundinnen und Kunden in Europa eine Lieferzeit von 5 bis 14 Werktagen an.

Haken 3: Am Ende leiden die Büezerinnen und Büezer

Hinter jeder noch so kleinen Temu-Bestellung steckt eine chinesische Arbeitskraft, die das Produkt herstellen muss. Und die Büezerinnen und Büezer in Chinas Fabriken leisten Pensen, die wir uns hierzulande nur schwer vorstellen können. Licht in die dunklen Arbeitsstrukturen solcher Fabriken in China bringt die Recherche der Schweizer Menschenrechtsorganisation Public Eye. Sie hatte mit ihrer Enthüllung im Jahr 2021 der Welt vor Augen geführt, wie prekär die Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen im Dienste des Ultra-Fast-Fashion-Konzerns Shein sind:

75-Stunden-Wochen sind die Norm, die Textilarbeiterinnen und arbeiter sitzen täglich über 12 Stunden an der Nähmaschine – und das an sechs oder sogar sieben Tagen die Woche.

Das Ganze zu Löhnen, die nur dank den vielen Überstunden existenzsichernd sind. Shein versprach nach der Publikation des Berichts Besserung. Aber wie die Nachrecherche des Public-Eye-Teams zeigt, chrampfen die Arbeitenden weiter wie bisher.

David Hachfeld ist Textilexperte bei Public Eye. Im Gespräch mit work sagt er, dass er und sein Team während der Nachrecherche zu Shein auch auf Fabriken gestossen seien, die für Temu produzierten. Seine Einschätzung: «Wir haben den Eindruck gewonnen, dass in diesen Produktionsstätten ähnliche Verhältnisse herrschen wie bei Shein.» Er sagt, dass Temu den Markt nochmals zum Nachteil der Büezerinnen und Büezer verändert habe:

Es gibt Hinweise darauf, dass Temu noch mehr Preisdruck auf die Hersteller ausübt und diese gegeneinander ausspielt. Zum Zeitdruck kommt nun also ein noch stärkerer Kostendruck dazu.

Und dieser wird am Ende auf die Arbeitenden abgewälzt.

AUFGEDECKT: Die Recherchen von David Hachfeld und seinen Kolleginnen und Kollegen von Public Eye zeigen, zu welche prekären Bedingungen in China Waren produziert werden. (Foto: Public Eye)

Tatsächlich kam es diesen Sommer in China zu heftigen Protesten. Hunderte Händler stürmten die Temu-Zentrale in der Stadt Guangzhou. Hintergrund war eine Strafe, die Temu den Händlern auferlegte für den Fall, dass Kunden ihre Waren zurückgeben und eine Rückerstattung verlangen. Public-Eye-Experte Hachfeld sagt, dass er solche Proteste bei Shein bisher nicht gesehen habe und diese generell in China eher ungewöhnlich seien. Auch der Druck für Arbeitnehmende, die direkt für den Konzern arbeiten, muss gewaltig sein. Die NZZ berichtete, dass dieser bereits Menschenleben gekostet habe: Eine 22jährige Temu-Angestellte sei auf ihrem Heimweg um 1.30 Uhr zusammengebrochen. Ein Ingenieur der Firma habe sich aus einem Hochhaus gestürzt. Weiter habe ein Ex-Angestellter das Foto eines Kollegen veröffentlicht, der nach einem Kollaps bei der Arbeit von der Ambulanz abgeholt werden musste. Er sprach von einer extrem harten Arbeitskultur, wonach 380 Stunden Arbeit im Monat erwartet worden seien.

Der Ruf nach Regulierung

Der Vormarsch von Temu stösst auch dem Schweizer Handel sauer auf. Zalando und Galaxus gehören bei den unter 34jährigen mit 41 Prozent zwar nach wie vor zu den beliebtesten Onlinemarktplätzen in der Schweiz, doch Temu (15 Prozent) habe bereits den amerikanischen Onlineriesen Amazon (14 Prozent) verdrängt, schreiben die Schweizerische Post und die Hochschule für Wirtschaft in Zürich in einer gemeinsamen Studie. Die Schweizer Händler fordern von der Politik nun gleich lange Spiesse. Es geht um unlautere Werbung von Temu, fehlende Mehrwertsteuerabgaben und Materialbestimmungen, die der chinesische Gigant nicht einhalten muss.

Für David Hachfeld von Public Eye gibt es noch weitere Möglichkeiten, die etwas bewirken könnten. Etwa eine Mindestgarantiefrist für Elektrogeräte. Dann würden wohl einige Produkte direkt vom Markt fliegen. Und das wäre schon mal eine Verbesserung für die Umwelt.

Ein Hauch von Heuchelei

Für den Schweizer Händlermarkt sind klar die «bösen Chinesen» schuld. Nur: Herrschte vor den Marktoffensiven von Temu, Shein, Ali-Express & Co. tatsächlich eine marktwirtschaftliche Idylle? Hachfeld sagt:

Wer das glaubt, hat in den letzten 20 Jahren geschlafen.

Temu und Shein haben keine komplett neuen Geschäftsmodelle erschaffen. Doch sie haben den Markt beschleunigt. Und das Preisgefälle ist krasser als je zuvor. Aber: «Ware günstig in China einkaufen: Das war schon vorher das Geschäftsmodell einiger Händler in der Schweiz.» Und bei Amazon stelle der «Marketplace», also der Bereich, in dem zig Händler ihre Waren anbieten und direkt der Kundschaft liefern, mittlerweile den grössten Geschäftszweig dar. Auch Schweizer Onlinehändler haben Produkte in ihrem Angebot, die sie nur «vermitteln» und den Kunden somit zum Direktimporteur machen. Genauso wie Temu.

Hachfeld fasst die Problematik so zusammen: Auf dem Markt gibt es viele Produkte, die mehr Schaden anrichten, als dass sie nützen. Zudem würden Händler und Behörden zu wenig Verantwortung übernehmen. Also bräuchte die Schweiz endlich ein starkes Lieferkettengesetz? Ja klar, sagt David Hachfeld. Aber: Die grundsätzliche rechtliche Verantwortung, die Menschenrechte zu respektieren, sei auch ohne Lieferkettengesetz vorhanden:

Es gibt nicht nichts. Die Schweiz tut einfach zu wenig, um diese Verantwortung in der Praxis einzufordern.

Diese Firma steckt hinter Temu

Temu ist eine Tochterfirma der 2015 gegründeten PDD Holdings. Diese ist mittlerweile die grösste Onlinehändlerin in China. PDD steht für Pinduoduo, was man mit «gemeinsam einkaufen» übersetzen kann. Der Gründer des E-Commerce-Riesen ist Colin Huang, der mit einem Vermögen von 48,6 Milliarden Dollar die reichste Person Chinas ist, wie das Wirtschaftsmagazin «Business Insider» berichtet.

EXTREM REICH: Colin Huang gibt ein Fernseh-Interview. (Foto: CNBC, Youtube)

Temu versteht sich nicht als Händler, sondern als Plattform, auf der Händler ihre Produkte anbieten und direkt an die Kundschaft verschicken. Über 100 000 chinesische Händler sind auf der Plattform registriert.

Pinduoduo lancierte die Temu-App im September 2022 in den USA. In Frühling 2023 begann der Eroberungszug auf dem europäischen Markt. (pam)

1 Kommentare

  1. Daniel Wermelinger 27. September 2024 um 14:55 Uhr

    Ganz ehrlich, ja ich kaufe Kleider bei TEMU und mein schlechtes Gewissen schiebe ich den Kleidergeschäfte in der Schweiz gerne weiter.

    1.) die Kleidergeschäfte bekommen die Kleider nicht aus China, sondern aus Bangladesh und Indien, wo die Arbeitsbedingungen noch deutlich schlechter als in China sind.
    2.) Soll ich nackt herumlaufen oder teure Kleider kaufen, weil ich in Kleidergeschäfte meine Grösse nicht finde. Ich finde sie nur in Spezialgeschäfte, das Hemd für über Fr. 100.–
    3.) Wenn mir die Kleiderfirmen in der Schweiz mir gegenüber kein Respekt zeigen, kann ich kein Respekt für die Kleiderfirmen haben.
    4.) In C&A habe ich Online meine Grösse gefunden, aber solchen schreckliche und langweilige Mode weigere ich anzuziehen. Weiss, Schwarz, Grau, Muster Weiss-Schwarz und Pastellblau. Sorry ich bin KEIN Langweiler der solche Farbe anzieht, es entspricht absolut nicht meinem Geschmack… ich finde es traurig, dass nun die Kleidermode den Autofarben entsprechen (etwa 80-90%): Grau, Weiss, Schwarz… das macht Depressiv. Ich will Farbe!!!

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