Welche «Flexibilisierung» sich Arbeitende tatsächlich wünschen
Arbeitgeberverband interpretiert seine eigene Umfrage falsch

Das Arbeitsgesetz schützt die Gesundheit der Arbeitenden. Das passt ideologischen Arbeitgebern nicht. Darum greifen sie das Arbeitsgesetz an, wo und wie sie nur können. Aktuell mit einer «Bevölkerungsbefragung» und zum x-ten Mal über die Ladenöffnungszeiten. Die Gewerkschaften denken weiter.

DAS DARF DOCH NICHT WAHR SEIN: Mit einer Umfrage wollen die Marktradikalen belegen, dass sich die Arbeitenden eine Aufweichung des Arbeitsgesetzes wünschen. Es wäre aber gut, man würde die Resultate etwas genauer studieren. (Montage: work)

Das Schweizer Arbeitsgesetz ist im internationalen Vergleich schwach. Trotzdem ist es den Arbeitgebern und den marktradikalen Ideologen ein Dorn im Auge. Sie wollen möglichst rund um die Uhr Zugriff auf die Arbeitskraft der Menschen. Sie nennen die angestrebte Schutzlosigkeit «Flexibilisierung». Neuster Streich: Sie haben sich bei der Firma Sotomo des Oberaargauer «Politgeographen» Michael Hermann ein Papier bestellt. Das trägt den imposanten Titel «Flexibilität in der Arbeitswelt. Bevölkerungsbefragung». Weniger imposant ist die Zahl der befragten Menschen:

Präzis sind es 1670 Arbeitnehmende von über 5 Millionen in der Schweiz. Und die haben sich erst noch gleich selbst zur Umfrage gemeldet. Darum ist «die Zusammensetzung der Stichprobe nicht repräsentativ», wie im Anhang des Papiers steht.

Medien spielen mit…

Doch so weit haben die eiligen Journalistinnen und Journalisten der SRG und der nationalen Nachrichtenagentur offensichtlich nicht lesen mögen. Viel lieber hielten sie sich an die vom Arbeitgeberverband zusammen mit der Studie verschickte Pressemitteilung. In der steht wörtlich: «Die Studie zeigt, dass flexible Arbeitszeiten nicht nur den Stress reduzieren, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels leisten können. Wollen wir erreichen, dass das Arbeitskräftepotential noch besser ausgeschöpft wird, sollte so gut wie möglich auf dieses Bedürfnis der Arbeitnehmenden nach mehr Flexibilität eingegangen werden. Hier ist auch die Politik gefordert.»

NACHGEPLAPPERT: Die eigenwillige Interpretation der Umfrage wird von vielen Medien einfach übernommen. (Montage: work)

Im Klartext: Die Lohnabhängigen wünschen, was die Arbeitgeber schon länger wünschen: eine Schleifung des Gesundheitsschutzes im Arbeitsgesetz. Das wäre tatsächlich «erstaunlich», wie das Radio und die Nachrichtenagentur berichteten und viele andere Medien nachpublizierten. Blöd nur für die Arbeitgeber und ihre Lautsprecher: Es stimmt so nicht.

…die Zahlen nicht

Wer das Sotomo-Papier genau liest, stellt unschwer fest:

Die Zahlen geben nicht her, was die Arbeitgeber wollen.

Abgefragt wurde der Wunsch, seine Arbeitszeit flexibler zu gestalten. Nun, wer möchte das nicht! Nicht gefragt wurde wohlweislich nach dem Wunsch, auch am Sonntag zu arbeiten, oder der Wunsch nach 17-Stunden-Arbeitstagen. Was sich die Lohnabhängigen wünschen, sind flexible Arbeitszeitmodelle – aber nur solche, über die sie selbst bestimmen können. Die Arbeitnehmenden wollen also nicht das Arbeitsgesetz deregulieren, sondern erwarten, dass die Arbeitgeber das Arbeitsgesetz einhalten, aber innerhalb der sehr grosszügigen Rahmenbedingungen die Wünsche der Arbeitnehmenden berücksichtigen.

Fetisch Sonntagsverkäufe

Ein Hauptkampfplatz gegen den Gesundheitsschutz im Arbeitsgesetz sind die Ladenöffnungszeiten. Gewerblerverbände und marktradikale Politikerinnen möchten sie einfach abschaffen. Das Problem:

Das will eigentlich ausser ihnen niemand. Schon gar nicht das Volk.

Trotz angeblich überwältigendem Bedürfnis der Bevölkerung lehnte ebendiese in den vergangenen rund 20 Jahren über 70 Prozent der «Liberalisierungs»-Vorlagen ab, wenn diese an die Urne kamen. Und noch wichtiger: Nicht einmal die operativen Gewerblerinnen und Gewerbler wollen dies. Selbst dort, wo rechte Parteien und Gewerbeverbände längere Ladenöffnungszeiten oder zusätzliche Sonntagsverkäufe durchtrötzelten, verzichten teilweise selbst die Grossverteiler auf eigentlich erlaubte zusätzliche Sonntagsverkäufe. Rentiert nicht.

SHOPPEN NON-STOP: Turbo-Lädeler wollen die Ladenöffnungszeiten massiv ausdehnen, obwohl dafür gar kein Bedürfnis besteht. (Foto: Keystone)

Doch die bürgerliche Ladenöffnungsbesessenheit können ganz offensichtlich weder die Abfuhren beim Volk noch die Absagen der Detailhändler heilen. Diese Woche hat die Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) des Ständerats einmal mehr einen Vorstoss durchgewinkt, der die bewilligungslosen Sonntagsverkäufe von vier auf zwölf erhöhen will. Obwohl die bereits heute erlaubten vier in vielen Kantonen kein Bedürfnis sind.

Die Krankmacher

Bereits heute leidet die Gesundheit der Beschäftigten im Detailhandel unter zerstückelten Arbeitszeiten, Abendarbeit und kurzfristigen Dienstplanänderungen. Denn in den vergangenen Jahren drückten die Arbeitgeber hier Scheibe um Scheibe «Flexibilisierungen» durch. Das macht krank. Die Zahlen der im vergangenen Mai erschienenen «Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2012-2022» sind alarmierend und erschreckend:

28 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz fühlen sich bei der Arbeit gestresst, und das Risiko, ein Burnout zu erleiden, nimmt gerade auch bei Leuten mit tiefen Einkommen zu.

Es geht auch anders

Arbeitsbedingungen, die krankmachen, und (Produktivitäts-)Gewinne, die immer ungleicher zwischen den Arbeitenden und den Kapitalbesitzenden verteilt werden, haben einen engen Zusammenhang. Die Unia hat darum ein Manifest lanciert. Es steht unter dem Titel «Mehr Zeit zum Leben – Arbeit neu denken». Die Unterzeichnenden fordern eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbusse und bei vollem Personalausgleich. Das Manifest kann über diesen Link gelesen und unterschrieben werden. Es schliesst mit den Worten:

Wir wollen nicht nur leben, um zu arbeiten. Arbeit soll ein gutes Leben ermöglichen. Das Nachdenken über die Arbeit der Zukunft kann nicht in den ausgetretenen Pfaden der Deregulierung und Flexibilisierung stattfinden. Wir wollen Arbeit grundlegend neu denken, um stärker selbst über unsere Zeit verfügen zu können.

Doch unterschreiben ist das eine, zusammen weiterdenken und handeln das andere. Darum hat die Unia für den kommenden Samstag, 26. Oktober, eine Tagung unter dem Titel «Mehr Zeit zum Leben – Arbeitszeitverkürzung jetzt!» organisiert. Die Details finden Sie unter diesem Link.

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