Entlassungen und Kurzarbeit
Der Kampf um Stahl Gerlafingen

Das Stahlwerk Gerlafingen will 120 Stellen streichen. In wenigen Tagen werden die Brennöfen kühlgestellt und die Stahlarbeiter in Kurzarbeit geschickt. work hat eine exklusive Führung durch das noch glühende Werk erhalten.

SCHWEIZER INDUSTRIE: Das Stahlwerk Gerlafingen rezykliert rund 700’000 Tonnen Schrott pro Jahr. (Foto: zvg)

Bei der Einfahrt in das kleine Örtchen Gerlafingen bei Solothurn ist die Stahlfabrik nicht zu übersehen. Flächenmässig scheint ein Drittel des Dorfes Fabrikareal. Hinter den Fabriktoren öffnet sich eine ganz andere Welt: Kamine, Rohre und Berge von Materialien. Dazwischen reger Lastwagenverkehr und rauchende Büezer, die mit dem Velo über das Gelände flitzen. work hat aus nächster Nähe einen Blick in die glühenden Öfen, auf die blitzschnellen Walzstrassen und in die trübe Zukunft der Fabrik geworfen. 
 
Erste Station: Schrotthaufen. Täglich werden hier 3 Tonnen Schrott mit Güterzügen und LKW angeliefert. Pro Tonne bezahlt das Stahlwerk etwa 350 Franken, verkauft wird der fertig produzierte Stahl für 600 Franken die Tonne. Der Anlieferungsplatz ist beeindruckend: Ein Kran schwebt über die Schrotthaufen, pickt mit einem immensen Magneten die Metallreste und stapelt diese korrekt für den Schmelzprozess. 

AM SCHIENENNETZ ANGESCHLOSSEN: Ein grosser Teil des Materials wird in Gerlafingen per Zug angeliefert und abtransportiert. (Foto: zvg)

In einem grossen Kessel kommt das Metall nun glühend in das Herzstück des Stahlwerks, den Ofen. Hier wird es innert 35 Minuten zu flüssigem Stahl und in eine Pfanne abgegossen. Darin sieht es aus wie in einem Vulkan. Es ist heiss, laut, staubig. Ein Büezer steht in feuerfester Kleidung direkt vor dem Ofen, Funken stieben. Er macht eine erste Probe. Der Ofen ist mittlerweile 1621 Grad heiss. «Jetzt geht’s noch, aber wenn im Sommer draussen 35 Grad sind, verglühen wir hier drinnen fast mit», sagt ein Arbeiter.

Entlassungswelle ist noch nicht verdaut

Der noch glühende Stahl wird nach dem Schmelzen in Form gebracht. Die 14 Meter langen Stahlstäbe gelangen dann per Förderband auf den Vorplatz der Produktionsstätte. Dem Regen verdankt die work-Besucherin einen Spezialeffekt, der bei Schnee noch eindrücklicher ist: Die Stahlbalken dampfen – und das stundenlang. Im Idealfall geht die Stahlverarbeitung gleich weiter, denn das Stahlwerk bemüht sich darum, jedes Grad bei der Produktion zu erhalten und somit Energie einzusparen.

EINDRÜCKLICH: Im Stahlwerk Gerlafingen stieben die Funken. (Foto: zvg)

Um die Balken in die richtige Form zu walzen, wird der Stahl wieder auf über 1000 Grad erhitzt und durch die Kombistrasse im Walzwerk gejagt. Noch vor wenigen Monaten hatte Gerlafingen zwei Walzwerke. Eines davon wurde nach der ersten Massenentlassung stillgelegt. Das leere Werk fühlt sich an wie ein Vakuum. Der Anblick ist traurig. Auch die letzte Schicht hier ist noch nicht verdaut, erzählt ein Arbeiter:

Es war emotional, das letzte Mal hier zu walzen. Mit allen Sirenen im Werk haben wir die allerletzte Schicht beendet.

Vorbild der Kreislaufwirtschaft

Das Stahlwerk ist ein Recyclingwunder: Stahl kann in seiner reinsten Form unendlich oft geschmolzen und neu geformt werden. Abfälle gibt es hier fast keine: «Ausser Paletten», scherzt der Produktionsleiter. Abfälle aus der Produktion werden im Strassenbau genutzt. Selbst der rausgefilterte Staub aus den Abgasen wird weiterverkauft.

Petition: Stahl Gerlafingen muss bleiben!

Die Unia lanciert mit weiteren Sozialpartnern eine Petition. Gefordert wird von der Politik sofortiges Handeln. Und von der Eigentümerin von Stahl Gerlafingen, die Entlassungen zu stoppen. Zur Petition geht es über diesen Link.

Deshalb sind die Massenentlassung und das Risiko einer kompletten Schliessung des Werks nicht nur wegen der Arbeitsstellen, sondern auch aus ökologischer Sicht ein Desaster. Pro Jahr rezykliert das Stahlwerk rund 700’000 Tonnen Schrott, hauptsächlich per Zug angeliefert. Würde das Stahlwerk geschlossen, wären Zehntausende zusätzliche Lastwagenfahrten ins Ausland notwendig. Die Folgen wären also nicht nur für die Büezerinnen und Büezer vor Ort, sondern für die gesamte Schweizer Bevölkerung massiv. Das Stahlwerk ist wegweisend für die Ökologie der Schweiz und ein Vorbild in Sachen Kreislaufwirtschaft. 

DÜSTERE ZUKUNFT: Auf dem riesigen Areal von Stahl Gerlafingen wird der Betrieb bald unterbrochen. (Foto: zvg)

Bereits Ende April kommunizierte das Stahlwerk: 95 Stellen werden abgebaut (work berichtete). Erst vergangene Woche kam die Hiobsbotschaft: weitere 120 Arbeitsplätze sollen abgebaut werden. Das ist eine Streichung von über 200 Stellen in weniger als einem halben Jahr. Zudem wird die gesamte Belegschaft in Kurzarbeit geschickt, denn die Fabrik legt bis Ende Oktober den Betrieb auf Eis. 

Letztes Flaggschiff der Solothurner Industriegeschichte

Für Roberto Zanetti, ehemaligen Solothurner Ständerat, ist die Krise des Stahlwerks kein unbekanntes Terrain. Vor fast 30 Jahren stand das Werk bereits in einer sehr misslichen Lage und konnte mit der Hilfe des damaligen Gemeindepräsidenten Zanetti weiter am Leben bleiben. Er sagt:

Das Stahlwerk in Gerlafingen ist das letzte Flaggschiff der Solothurner Industriegeschichte. Der Staat muss sofort Überbrückungshilfe leisten, denn das Risiko einer Schliessung ist allgegenwärtig.

Roberto Zanetti, ehemaliger SP-Ständerat und früherer Gemeindepräsident von Gerlafingen. (Foto: Keystone)

Auch der gegenwärtige Gemeindepräsident Philipp Heri ist in Sorge. Zu work sagt er: «Diese Entlassungen werden sich auch auf die Stimmung im ganzen Dorf, ja auf die ganze Region auswirken. Bei den Einwohnerinnen und Einwohnern von Gerlafingen verspüre ich einen grossen Zorn Bundesbern gegenüber. Man erwartet jetzt, dass der Bundesrat endlich eingreift.» Heri versucht nun zu koordinieren. Und zu beruhigen.

Von der SP bis zur SVP einig: Der Bundesrat muss das Stahlwerk retten

Noch im März reagierte SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin trotzig. Über das Stahlwerk Gerlafingen sagte er dem SRF: «Es wäre natürlich ein schwieriger Moment, wenn diese Branche fallen sollte. Systemrelevant ist sie nicht.» Das war die Reaktion vom Bundesrat auf eingereichte Motionen aus den Räten. Von SP bis SVP wird gefordert: Jetzt muss dem Stahlwerk endlich unter die Arme gegriffen werden. 
 
Eingereicht haben die Motionen im Nationalrat der Solothurner Christian Imark (SVP) und im Ständerat die Solothurnerin Franziska Roth (SP). In ihrer Motion schreiben sie, dass mit einer Schliessung von Gerlafingen die Schweiz ihr einziges Werk verlieren würde, das die entsprechenden metallischen Kreisläufe schliesst, Baustahl herstellt und die Rohstoffe im Inland sichert. Auch aus ökologischer Perspektive wäre eine Schliessung fatal, wenn der Stahlschrott in Zukunft zur Verarbeitung ins Ausland exportiert würde. Stahl Gerlafingen ist für die Schweiz sehr wohl relevant. Vergangenen Donnerstag reichte Christian Imark (SVP) eine weitere Motion im Nationalrat ein, um Druck zu machen. Die Forderungen: Sofortmassnahmen für die Rettung. Auch das Notrecht sei angebracht. Die Motion wurde angenommen und geht nun in den Ständerat.
 
Für den ehemaligen Ständerat Zanetti, der sich während seiner ganzen politischen Tätigkeit für das Stahlwerk eingesetzt hat, eine unverständliche Ausgangslage: «Wir haben die Credit Suisse gerettet. Jetzt muss die Zukunft für das Stahlwerk gesichert werden. Es kann nicht sein, dass wir uns um Banker sorgen, aber um unsere Büezer nicht.»


Wie geht es den Büezern?

Für die Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter ist die Nachricht ein Schock. Am Donnerstag um 6.00 Uhr früh wird abgestellt. Wie es weitergeht, macht den meisten hier Bauchschmerzen:

Sören Kaiser (24), stellvertretender Leiter Zentrallager

«Von der Entlassung per se war ich nicht überrascht, aber von der Menge. Ich sorge mich sehr um mein Team, gerade um Ältere oder jene ohne Ausbildung.»

Markus Pfander (51), Tageskoordinator und bereits 31 Jahre im Betrieb

«Die Belegschaft tappt komplett im Dunkeln. Die Geschäftsleitung muss endlich Klartext mit uns sprechen.»
 
Heinz Grolimund (54), Richtmeister

«Wir sind sehr froh, setzen sich die Gewerkschaften so stark für uns ein. In dieser schwierigen Zeit ist es wichtig, Unterstützung zu haben.»

Ramona Graf (27), Teamleiterin Kran-Instandhaltung

«Diese Entlassungswelle ist für mein Team fatal. Ich muss jetzt schon mit meinen verbliebenen Leuten jonglieren, damit wir die Schichten decken können. Verliere ich noch eine Person, kann mein Team die Arbeit nicht mehr stemmen.»
 
Ifeanyi Ezeh (53), Logistiker

«Diese Entlassungen sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Zukunft bleibt auch dann ein Rätsel.»
 
Heinz Niederhauser (55), Leiter Produktionsplan

«Ich habe grosse Sorgen, meine Arbeit in diesem Alter noch zu verlieren. Denn die Produktion muss theoretisch nicht in Gerlafingen geplant werden.»
 
Mischa Mathys, Leiter 2. Schicht Mattenfabrik

«Wir in der Mattenfabrik wurden bislang von den Entlassungen verschont. Aber wir sind eine Firma und sorgen uns umeinander – egal, wenn es trifft.»
 
Silvio Beck (41), Leiter Umwelt

«Ich spreche aus der fachlichen Perspektive: Eine Schliessung hätte zur Folge, dass wir Stahl importieren müssen. Der CO₂-Ausstoss würde für Stahl massiv steigen. Aus ökologischer Sicht wäre das ein krasser Rückschritt.»
 
Volkan Turhan (49), Logistiker

«Ich bin Gerlafinger, und diese Fabrik ist der Stolz des Dorfes. Eine Schliessung würde den Einwohnerinnen und Einwohnern wehtun.»

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