Reclaim Democracy I: Arbeitszeitverkürzung
«Ein Burnoutschutz für die Erde und die Menschen»

Der Soziologe Simon Schaupp fordert: weniger Arbeit und mehr Nutzlosigkeit! In ­seinem neusten Buch erklärt er, wie Arbeit, Natur und Klimakrise ­zusammenhängen.

KONGRESS: Zum dritten Mal hat das linke Denknetz einen «Reclaim Democracy»-Kongress veranstaltet. Dieses Jahr unter dem Motto «Reclaim Hope», die Hoffnung zurückfordern. Mit über 50 Workshops und Ateliers über Atomwaffenverbotsvertrag bis Wellbeing Economy, von Biodiversität bis ungleiche Demokratie.  (Illustration: Montage work)

work: Sie sind für eine «lustvolle Nutzlosigkeit». Sollen wir alle mehr faul rumliegen?
Simon Schaupp: Nein, das ist nicht die Idee. Wir müssen uns gegen die Übernutzung unserer Körper und den Verschleiss der Umwelt wehren. Nicht im Sinne von Verzicht, sondern als Befreiungsprogramm, als Gewinn von Wohlbefinden, Gesundheit und Freiheit. Durch Arbeitszeitverkürzung und Verlangsamung, aber auch durch das Zurückdrängen von kapitalistischen Logiken aus verschiedenen Lebensbereichen. Faulheit wird aufgrund der planetarischen Krise aber kaum möglich sein, denn es wird in der Zukunft eher mehr Arbeit geben. Wegen Konflikten und Flucht ist zum Beispiel ein riesiger Zuwachs an notwendiger Sorgearbeit zu er­warten. Und das gleiche gilt für die Landwirtschaft: Für eine ökologisch nachhaltige ­Landwirtschaft wird viel mehr Arbeit notwendig sein. Aber zuerst müssten wir die ökologisch destruktiven Jobs und auch das, was der Anthropologe David Graeber «Bull­shit-Jobs» nennt, zurückfahren. Damit man die menschlichen Potentiale befreien kann, für das, was planetarisch ansteht.

In Ihrem Buch erklären Sie die historischen Ursachen für die heutige Klimakrise mit einem starken Fokus auf die Arbeitswelt. Warum?
Ich finde es äusserst problematisch, dass das Umweltthema immer mit Konsum gleichgesetzt wird, zum Beispiel mit dem CO2-Fussabdruck. Damit wird behauptet, man könne die Verantwortung für jede Emission in einen individuellen Konsumakt umrechnen. Das ist erstens falsch, denn wir können nicht frei entscheiden, wie die Dinge hergestellt werden, die wir konsumieren. Und zweitens ist es auch eine Idee, welche die fossilen Konzerne wie BP oder Shell unter die Leute gebracht haben, um die Verantwortung von der Produktion abzulenken.

Sie bezeichnen Arbeit als Gegenbegriff zum Konsum und sprechen von «Stoffwechselpolitik». Warum?
Bei der Arbeit transformieren wir die Natur auf stofflicher Ebene. Und das nicht nur im Schlechten. Das ist nicht nur Umweltzerstörung, sondern ein notwendiger Prozess bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. In der ökologischen Krise wird es nun immer wichtiger, dass wir die Arbeit als politische Arena erkennen, wo wir nicht nur Löhne, sondern auch die Zukunft unseres Planeten aushandeln.

Was sind die Auswirkungen der ökologischen Krise auf die Arbeitnehmenden?
Unser letztes Forschungsprojekt mit Bauarbeitern zeigt, dass viele ökologische Fragen auf der Arbeit ausgehandelt werden. Bei den Verhandlungen für den Landesmantelvertrag war der Klimawandel ein zentraler Gegenstand. Der Baumeisterverband sagte, dass es wegen Extremwetters zu viele Arbeitsunterbrechungen gebe. Deshalb müsse länger gearbeitet werden. Sie wollten den 12-Stunden-Tag und die 58-Stunden-Woche ermöglichen. Die Unia war dagegen und forderte bezahlte Freistellungen, wenn das Wetter gefährlich ist, also eine Arbeitszeitverkürzung. In einem solchen Moment wird ausgehandelt, wer die Kosten der Klimakrise trägt.

Und was denken die Bauleute selbst über den Klimawandel?
Die befragten Bauarbeiter hatten eine starke Distanz gegenüber der Klimapolitik und der Klimabewegung. Sie haben sie als sehr akademisch und elitär wahrgenommen. Gleichzeitig kritisieren sie ihre eigene Branche aber mit ökologischen Argumenten: «Man geht mit der Natur um wie mit uns», haben sie gesagt: Es gebe Stress, und alles müsse möglichst billig sein. Sie haben klare Forderungen aufgestellt. Zum Beispiel die Arbeitszeitverkürzung, auch als ökologisches Programm.

Wo stehen wir bei der Arbeitszeit­verkürzung in der Schweiz?
Die Schweiz hat bei einem Vollzeitpensum die höchste durchschnittliche Arbeitszeit in Europa. Die steigenden Arbeitszeiten, stressbedingte Krankheiten oder auch das Fehlen einer ernsthaften Elternzeit sind gravierende Probleme, die zu wenig thematisiert werden. Wir sollten auch mehr über die ökologische Wirkung einer Arbeitszeitverkürzung sprechen, auch in GAV-Verhandlungen. Es geht nicht nur um Produktionsreduktion, sondern auch um Nebeneffekte, wie zum Beispiel die Verminderung der Pendelzeit bei der Viertagewoche. Ein weiterer interessanter Faktor ist die Abnahme von stressbedingtem Konsum oder auch von schädlichen Urlaubsformen.

Was meinen Sie damit?
Das können kleine Sachen wie die Tiefkühlpizza oder Home-Delivery von Essen sein. Aber auch die Flugreise, weil man zu wenig Zeit hat. Und dann auch intensive Formen der Entspannung, was heute unter dem ­Begriff «Wellness» läuft. Da lässt man sich in Wellness-Maschinerien einspannen, um sich vom belastenden Arbeitsalltag zu erholen.

Über zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung bezeichnen sich inzwischen als müde und erschöpft. Sehen Sie diesen Zustand auch als Ausgangspunkt für den Befreiungskampf?
Ja, diese persönliche Betroffenheit ist viel mehr als ein individuelles Problem. Die kapitalistische Wirtschaft muss wachsen, dafür braucht sie immer mehr Ressourcen. Das bedeutet auch, dass die menschliche Arbeit immer intensiver genutzt wird, also mehr Arbeitsstunden und immer intensivere Arbeit. Das ist der Grund für die Erschöpfungserscheinungen. In Deutschland zeigen repräsentative Umfragen, dass die Hälfte der Beschäftigten wegen der Arbeit zu erschöpft sind, um sich um Freunde und Familie zu kümmern. Und es gibt auch die wachsende Zahl von Burnouts und psychischen Erkrankungen aufgrund von Stress. Die Erschöpfung der Menschen müssen wir in einen Zusammenhang mit der Erschöpfung der Erde und den Ressourcen stellen. Das ist ein und derselbe Prozess. Es geht um einen Burnoutschutz für die Erde und die Menschen.

Arbeitsforscher: Simon Schaupp

Simon Schaupp (36) lehrt und forscht als Soziologe an der Universität Basel. Seine 2021 erschienene Disserta­tion «Technopolitik von unten» wurde mehrfach ausge­zeichnet.

Simon Schaupp: Stoffwechsel­politik, Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten, 422 Seiten,
Fr. 28.80.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.