Tagung Arbeitszeitverkürzung
Schluss mit Chrampfen bis zum Umfallen

In keinem anderen europäischen Land wird so viel gearbeitet wie in der Schweiz. Das macht krank und behindert die Gleichstellung. Doch das soll sich jetzt ändern. Fast hundert Teilnehmende haben an einer Unia-Tagung über Wege zur Arbeitszeitverkürzung diskutiert.

GROSSES INTERESSE: Die Tagung der Unia zur Arbeitszeitverkürzung war gut besucht. (Foto: Thierry Porchet)

Der Slogan des Frauenstreiks 2019 hallt bis heute nach: «Respekt, mehr Lohn, mehr Zeit!» Fünf Jahre später versammelten sich am 26. Oktober auf Einladung der Unia in Bern fast hundert Personen, um sich über die notwendige Arbeitszeitverkürzung in der Schweiz auszutauschen und zu reflektieren. Unia-Präsidentin Vania Alleva sagt:

Es ist ein zentrales Thema, weil es mehrere Herausforderungen berührt: die bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, die Gesundheit der Arbeitnehmenden, die gerechtere Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, aber auch die Ökologie.

Die Arbeitszeitverkürzung umfasst die tägliche Arbeitszeit (bezahlte Pausen- oder Reisezeiten), die wöchentliche Arbeitszeit (4-Tage-Woche oder 30-Stunden-Woche), die jährliche Arbeitszeit (mehr Ferien), sowie das Renteneintrittsalter.

«Wir haben grosse Siege errungen, insbesondere die Rente mit 60 auf dem Bau, die hart erkämpft wurde und immer noch bedroht ist», sagt Vania Alleva, «aber wir mussten uns in den letzten Jahren auch gegen Dutzende Angriffe der Arbeitgeber und der bürgerlichen Parteien wehren, die unter dem Vorwand von Covid-19, des starken Frankens oder der Finanzkrise auf eine übertriebene Deregulierung und Flexibilisierung abzielten. Es ist uns gelungen, die Ausweitung der Sonntags-Ladenöffnungszeiten oder die 70-Stunden-Woche einzudämmen.»

DISKUSSIONSRUNDE: Unia-Präsidentin Vania Alleva mit Heidi Schroth von der deutschen Gewerkschaft IG Metall. (Foto: Thierry Porchet)

Die Arbeitszeitverkürzung ist jedoch der Arbeitgeberseite ein Dorn im Auge. «Es ist ein Thema, das viel mehr Widerstand hervorruft als die Löhne, selbst im aktuellen Kontext des Arbeitskräftemangels», sagt Unia-Präsidentin Alleva.

Reduktion auf eigene Kosten

Wie wird heute in der Schweiz gearbeitet? Die am Arbeitsplatz verbrachte Zeit hat zwar seit dem Ende des 20. Jahrhunderts abgenommen, von 45 Stunden im Jahr 1973 auf 41,7 Stunden im Jahr 2023. Dennoch ist es nicht überraschend, dass wir mit einer durchschnittlichen Vollzeitarbeitszeit von 42 Stunden und 33 Minuten pro Woche im europäischen Vergleich am meisten arbeiten. Christine Michel von der Unia-Abteilung Politik sagt:

Wenn man die Teilzeitarbeit berücksichtigt, sinkt die durchschnittliche Arbeitszeit auf etwa 35 Stunden. Das bedeutet, dass Arbeitszeitverkürzung in der Schweiz bereits eine Realität ist, aber sie erfolgt auf individuelle Weise mit Lohneinbussen, insbesondere für Frauen.

Die Zahlen zeigen: 26,5 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten regelmässig am Samstag und 16 Prozent am Sonntag. 16 Prozent arbeiten häufig am Abend, 8 Prozent arbeiten auf Abruf. In allen Fällen sind Frauen stärker betroffen.

Büezerinnen und Büezer leiden

Neuere Studien haben gezeigt, dass ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung unter Schlafstörungen leidet, die mit ihrer physischen und psychischen Gesundheit zusammenhängen. Ebenso geben 18 bis 23 Prozent der Erwerbstätigen an, dass sie bei der Arbeit immer mehr Stress haben, insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen (29 Prozent), mit einem höheren Risiko für Burnout. Die Gründe dafür sind immer intensivere Aufgaben und höherer Druck. Ebenso hat eine Studie gezeigt, dass Menschen, die 100 Prozent arbeiten, ein höheres Risiko haben, an Krebs zu erkranken.

Deshalb ist für Unia-Gesundheitsexpertin Christine Michel klar:

Es ist dringend notwendig, die Arbeitszeit zu senken: für eine bessere Gesundheit, bessere Erholung und die Vermeidung von Fehlern und Unfällen.

Unia-Frau Christine Michel. (Foto: Thierry Porchet)

Denn gleichzeitig ist die Produktivität zwischen 2016 und 2023 um mehr als 9 Prozent gestiegen, während die Reallöhne gesunken sind. «Eine Arbeitszeitverkürzung ist möglich, wird aber nicht von allein kommen», sagt Michel.

Manifest Arbeitszeitverkürzung: Jetzt unterschreiben!

Arbeitsbedingungen, die krankmachen, und Gewinne, die immer ungleicher zwischen den Arbeitenden und den Kapitalbesitzenden verteilt werden, haben einen engen Zusammenhang. Die Unia hat darum ein Manifest lanciert. Es steht unter dem Titel «Mehr Zeit zum Leben – Arbeit neu denken». Die Unterzeichnenden fordern eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbusse und bei vollem Personalausgleich. Und zeigen auf, dass die Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit für die Gesundheit der Lohnabhängigen, für die Gleichstellung und für das Klima von Vorteil ist. Sie können das Manifest über diesen Link lesen und unterschreiben. 

* Dieser Artikel erschien zuerst in der französischsprachigen Unia-Zeitung «L’Evénement syndical» und erscheint hier in einer leicht abgeänderten Version. Zum Originalbeitrag geht es über diesen Link.


Aus dem Arbeits-Alltag«Spitzenleistung und Ethik müssen auch für die Mitarbeitenden gelten, nicht nur für das Marketing-Image»

Für diese Büezerinnen und Büezer ist klar: echte Arbeitszeitverkürzung wäre lebensrettend für unsere Gesellschaft.

Pierre-Yves arbeitet im Detailhandel. Er erklärte, dass die letzte Lohnerhöhung mit einem Personalabbau und einer Intensivierung der Arbeit einhergegangen sei:

(Foto: Thierry Porchet)

Die Arbeitsbelastung ist hoch, was dazu führt, dass der Krankenstand und die Gesundheitskosten in die Höhe schnellen: Niemand gewinnt. Ganz zu schweigen von der sinkenden Qualität der Dienstleistungen. Es ist erschütternd zu sehen, dass sich die Arbeitsbedingungen im Jahr 2024 verschlechtern und die neuen Technologien nicht im Dienste der Mitarbeitenden stehen.


Virginie arbeitet seit 30 Jahren in der Uhrenindustrie. Auch sie hat die Veränderungen beobachtet:

(Foto: Thierry Porchet)

Die Fortschritte sind beträchtlich: Man kann mit weniger Personal mehr produzieren, aber den Mitarbeitenden wird nichts geschenkt. Es sollte möglich sein, das Tempo und den Druck zu reduzieren, um weniger, aber besser und unter humaneren Bedingungen zu produzieren. Spitzenleistung und Ethik müssen auch für die Mitarbeitenden gelten, nicht nur für das Marketing-Image.


Lana erzählt von ihrem Burnout, als sie Coiffeuse lernte:

(Foto: Thierry Porchet)

Ich befand mich in einem Teufelskreis und war völlig erschöpft. Ich war ängstlich und habe viel Gewicht verloren.» Schliesslich wird ihr gekündigt, und das ist die Befreiung. Sie sagt: «Wir brauchen ein besseres Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben, unsere Gesundheit darf nicht Opfer der Arbeit werden!


Grazia, Präsidentin der Unia-Frauengruppe, führte feministische Gründe für die Senkung der Arbeitszeit an:

(Foto: Thierry Porchet)

Die zu drei Vierteln von Frauen geleistete kostenlose Care-Arbeit ist für das Funktionieren unserer Gesellschaft unerlässlich. Aber sie verursacht Armut, während des Arbeitslebens und im Ruhestand. Es wird keine Gleichstellung geben, wenn die Löhne nicht fair sind und die Arbeitszeit nicht gleichmässig verteilt ist.

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