Schuh-Imperium: Aus dem Tagebuch eines Bata-Lehrlings
«…  so blutete mir die rechte Hand von der Reibung»

Der Herbst bringt Laub, Pfützen – und Gummi­stiefel! Diese gab’s bis 1990 noch made in ­Switzerland aus der Bata-Fabrik in Möhlin AG, wo die Batalianer arbeiteten und lebten, von Fabrik­direktors Gnaden.

MADE IN MÖHLIN: Bata produzierte bis 1990 Schuhe und Gummistiefel in der Schweiz. (Foto: Plakatsammlung Schule für gestaltung Basel)

Auf der Immobilienplattform Homegate sind gleich zwei «moderne Loftwohnungen» in Möhlin AG ausgeschrieben: die grössere Wohnung mit Deckenhöhe von vier Metern und 4,5 Zimmern zu 2642 Franken Miete. Im Bata-Park ist der Wohnraum noch nicht so knapp und überteuert wie in den städtischen Zentren. Die denkmalgeschützten ehemaligen Fabrikhallen von Bata werden seit 2017 als Loftwohnungen vermietet. Entlang der verlassenen Strasse, die durch den herbst­lichen Bata-Park führt, reihen sich ­Arbeiterhäuschen aus Backstein. Sogar Rehe fühlen sich in der Parkanlage wohl. Die Bata-Minigolfanlage ist stillgelegt, aber das Clubhaus im Baustil der frühen Moderne beherbergt ein Hotel mit Restaurant. Den Speisesaal schmücken historische Fotografien von 1.-Mai-Feiern (bei Bata «Tag der Mitarbeiter»). Im Clubhaus bietet ein Bildband des Historikers Tobias Ehrenbold Einblick in die Geschichte des Bata-Konzerns und der umliegenden Parkanlage.

WOHNEN UND ARBEITEN IN MÖHLIN

Der Plan für den Bata-Park in Möhlin entstand Ende der 1920er Jahre. Der Schuhfabrikant Tomáš Baťa (1876 bis  1932) hatte im tschechischen Zlín die grösste Schuhfabrik der Welt aufgebaut. Knapp 25 000 Arbeiterinnen und Arbeiter produzierten dort über 100 000 Paar Schuhe pro Tag. Baťa galt als Henry Ford Europas, der mit Massenproduktion und günstigen Schuhen die Branche auf den Kopf stellte. Sein Konzept des «Wohnens und Arbeitens an einem Ort» wollte Baťa auch in anderen europäischen Staaten anwenden und damit die wachsenden Zölle in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre umgehen. Im bäuerlich geprägten Möhlin konnte Baťa günstig Land erwerben und seinen neuartigen Fa­briktypus mit Wohn- und Freizeitanlagen für die Arbeiterinnen und Arbeiter realisieren. Doch die Eröffnung ­erlebte der Patron nicht, denn er verunfallte 1932 auf dem Flug von Zlín zur Eröffnungsfeier in Möhlin.

DOKUMENTIERT: Paul Metzger führte Tagebuch über seine Zeit bei Bata. (Foto: Bata-Archiv, Möhlin)

ARCHIV IM LUFTSCHUTZKELLER

Im Luftschutzkeller des Gemeindehauses von Möhlin liegen heute die Plakate, Schuhe, Werbeprospekte und persönlichen Gegenstände der sogenannten Batalianer. So auch die Tagebücher des Schweizer Bata-Lehrlings Paul Metzger. Der Möhliner reiste 1932 in die tschechische Fabrikstadt Zlín. Die Lehrlinge aus der Schweiz sollten dort zu Führungskräften für die neueröffnete Schweizer Fabrik ausgebildet werden. Wenige Tage nach seiner Ankunft in Zlín schreibt der 14jährige Metzger in sein Tagebuch: «Am Morgen in der Fabrik das erste Heimweh gehabt. Ich habe geweint von etwa neun bis zwölf Uhr. Kein Trank, keine Speise hilft.» Der Tagesplan für die Lehrlinge war strikt: Arbeit in der Fabrik von 7 bis 12 Uhr und von 14 bis 17 Uhr und am Abend Schule, Sport und Musik. Im Tagebuch beschreibt Metzger neben seinem Heimweh auch die Strapazen des Fa­brikalltags in Zlín: «Ich konnte die Arbeit nicht lange verrichten, so blutete mir die rechte Hand an einer Stelle von der Reibung. Ich meldete es dem Meister, dieser hiess mich wieder Schuhe reinigen, was ich den ganzen Tag nun tat. Am Abend sehr müde.»

ENTGEGEN BATAS LEITSPRUCH

Fliessbänder und Stempeluhren beschleunigten die Arbeit in der Bata-­Fabrik. Paul Metzger warf einen ­kritischen Blick auf diese neue Arbeitsrealität: «Zum ersten Mal sah ich, wie der Mensch zu einer Maschine gemacht wird. Doch er ist keine Maschine, er ist eine freie Natur, mit ­einem Geist belebt.» Seine Beobachtungen standen im Widerspruch zu Tomáš Baťas Leitspruch, der in übergrossen Buchstaben auf dem Elektrizitätswerk der Zlíner Fabriken prangte: «Dem Menschen das Denken – der Maschine die Plage».

MENSCH UND MASCHINE: In der Schuhproduktion von Bata traf moderne Technik auf geschickte Arbeiterhände. (Foto: ZVG)

DER UNBELIEBTE «KALKULATOR»

Nach eineinhalb Jahren in Zlín kehrte Metzger in die Schweiz zurück. Die Fabrik in Möhlin beschäftigte in dieser Zeit 400 Personen. Die Arbeit war begehrt, und jeden Morgen standen Menschen auf der Suche nach Arbeit vor den Fabriktoren. Doch Bata war in der Schweiz nicht nur beliebt: Der grosse Schweizer Konkurrent Bally bekämpfte den Billigproduzenten. Der Bundesrat erliess ein Bauverbot für Schuhfabriken. Und Kommunisten demonstrierten gegen den «kapitalistischen Grossausbeuter».

Paul Metzger wurde nach einem Studium der Nationalökonomie «Kalkulator» in der Möhliner Fabrik und überwachte die Produktivität der einzelnen Abteilungen. Wenn Metzger in der Fabrikhalle auftauchte, wurde geflucht, schreibt der Historiker Tobias Ehrenbold. Die Abteilungen waren entsprechend ihrer Arbeitsleistung am Gewinn des Unternehmens beteiligt. Auf dem Höhepunkt der Produktion 1963 produzierten die Batalianer in Möhlin 2,5 Millionen Paar Schuhe. 27 Jahre später stand die Fabrik still, die Produktion von Schuhen in der Schweiz war nicht mehr rentabel, und 125 Personen verloren ihre Arbeit. Einige wenige von ihnen leben auch heute noch in den Arbeiterhäuschen im Bata-Park.

Bata: Milliarden mit Schuhen

Mit weltweit 34 000 Mitarbeitenden, 6000 Filialen und 19 Schuhfabriken ist Bata heute immer noch einer der grössten Schuhproduzenten der Welt. Die Bata-Schuhe werden vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika produziert und verkauft. In der Schweiz stellte die letzte Bata-Filiale im Jahr 2022 ihre Produktion ein, doch der Hauptsitz des Schuhkonzerns befindet sich weiterhin in Lausanne. Das Magazin «Bilanz» schätzt das Vermögen der Familie Bata auf knapp zwei Milliarden Franken.

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