Neuenburg: Urteil zu WC-Pausen löst auf allen Seiten Kopfschütteln aus
So ein Seich!

Ausstempeln, um aufs WC zu gehen: Das verlangt die Uhrenfirma Jean Singer von den Mitarbeitenden. Jetzt stützt ein Gericht diese Praxis. Das erstaunt sogar den Arbeitgeberverband.

STILLES ÖRTCHEN: Die Pipi-Pause dient weder der Erholung noch der Verpflegung – und geht deshalb auf Arbeitszeit. (Foto: Getty Images)

Omega. Tudor. Rolex. Die Uhrenarbeiterinnen und -arbeiter der Firma Jean Singer in Boudry NE haben schon Zifferblätter für einige der edelsten Uhrmarken der Welt gefertigt. Doch bei den Toiletten ist ihr Arbeitgeber gar nicht edel, sondern ein Tüpflischiisser. Er verlangt, dass sie ausstempeln, wenn sie mal müssen. Denn der Gang aufs WC, finden die Firmenchefs, sei eine Pause und nicht Arbeitszeit.

Im Jahr 2021 forderte das Arbeitsinspektorat von der Firma, mit dieser eigenwilligen Praxis aufzuhören. Sie verletze den Persönlichkeitsschutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Doch das Management wollte die WC-Minuten partout nicht bezahlen. Deshalb musste – erstmals überhaupt – ein Gericht darüber befinden, ob eine so kleinliche Regelung rechtens sei.

Ja, aber …

Das Neuenburger Kantonsgericht urteilt jetzt: Ja, aber. Es gibt der Firma recht, weil der Text des Arbeitsgesetzes nicht ausdrücklich verbietet, Toilettengänge von der Arbeitszeit abzuziehen. Die Firma sieht dadurch ihre Sicht bestätigt, wonach jeder Unterbruch der Arbeit eine Pause sei, für die sie keinen Lohn bezahle. Wörtlich sagte der Anwalt der Firma Jean Singer gegenüber dem Westschweizer Sender RTS, das sei «unabhängig davon, ob es sich um Toilettenpausen, Essenspausen, Telefonpausen, Ruhepausen oder einen Spaziergang in der Natur handelt».

Lücke im Gesetz

Doch so richtig glücklich scheint das Neuenburger Gericht mit diesem Ausgang des Verfahrens nicht zu sein. Im Urteil bemängelt es denn auch, dass der Begriff der Pause im Schweizer Arbeitsgesetz nicht klar definiert sei. Und wird dabei ziemlich deutlich:

Es handelt sich um eine eigentliche Lücke im Gesetz. Das Parlament hat einen Punkt nicht geregelt, obwohl es dies hätte tun müssen.

Dass das Arbeitsgesetz mehrere Lücken und Schwächen aufweist, ist nicht neu. Im konkreten Fall hilft allerdings die offizielle Wegleitung des Bundes zum Gesetz. Sie hält fest, dass der Zweck der Pause «die Erholung und die Verpflegung» sei. Für Mirjam Brunner, Expertin für Arbeitszeit bei der Unia, zählt der Gang zur Toilette somit klar nicht als Pause:

Er dient einem anderen Zweck. Er ist ein grundlegendes physiologisches Bedürfnis des Menschen, das der Arbeitgeber zu respektieren hat.

Kopfschütteln überall

Nicht nur in der Unia sorgt dieses Urteil deshalb für Kopfschütteln. Der Kanton Neuenburg will den Richterspruch zwar nicht ans Bundesgericht weiterziehen. Die zuständige Regierungsrätin Florence Nater (SP) sagte aber in der RTS–Tagesschau:

Ich hoffe, dass diese Praxis keine Nachahmer in anderen Firmen findet.

Es sei «problematisch», wenn etwa während Hitzewellen den Mitarbeitenden empfohlen werde, genügend zu trinken, und dann WC-Pausen von der Arbeitszeit abgezogen würden.

Sogar der Arbeitgeberverband reagiert auf das Urteil mit Befremden. Für Barbara Zimmermann-Gerster von der Geschäftsleitung ist die Regelung von Jean Singer ein Einzelfall und «nicht die Richtung, in die es gehen sollte». Gegenüber SRF betonte sie, angesichts des Fachkräftemangels «müssen Arbeitgeber schauen, dass sie attraktiv sind und auch auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmer eingehen».

Für Solenn Ochsner von der Unia Neuenburg ist klar: Mit seiner kleinlichen WC-Regelung macht Jean Singer genau das Gegenteil. Vorgesetzte in der Firma machten Bemerkungen über Mitarbeitende, die oft aufs WC gingen. «Es gibt Leute, die deshalb zu wenig trinken während der Arbeit. Die Pflicht zum Ausstempeln ist entmenschlichend und völlig inakzeptabel.»

GRATIS PIPI: Mit Transparenten und Toi-Toi machte die Unia auf das WC-Gate aufmerksam. (Foto: Olivier Vogelsang)

Diskriminierung der Frauen

Das Kantonsgericht Neuenburg packte noch ein weiteres «aber» in sein Urteil. Es hält nämlich fest, dass die Firma mit ihrer Regelung zusätzlich die Frauen diskriminiere, da diese während der Menstruation öfter auf die Toilette müssten. Und schickt den Fall zurück ans Arbeitsinspektorat. Dieses solle von der Firma «Massnahmen verlangen, um diese Ungleichheit zu verringern». Heisst immerhin: Die Firma Jean Singer darf sich erneut mit kantonalen Kontrolleurinnen und Kontrolleuren herumschlagen. Ihr Versuch, nach eigenem Gutdünken die Regeln festzulegen, ging – pardon – in die Hose. 

Weitere Fälle: Swatch rudert zurück

Drei weitere Uhrenfirmen verlangen, dass die Mitarbeitenden für den Gang aufs WC ausstempeln, meldet das RTS. Zwei davon, «Universo» und «Rubattel et Weyermann», gehören zur Swatch-Gruppe. Diese gab bekannt, das entspreche «überhaupt nicht» der Praxis der Gruppe. Man werde die Regeln in diesen Betrieben «sofort an die Standards des Konzerns anpassen»..

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.