Grosses work-Gespräch mit SGB-Chefökonom Daniel Lampart (Teil 1)
«Wir haben eine Krise des Service public!»

Daniel Lampart ist Chefökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). Mit work redet er über verstockte Arbeitgeber, traumatisierte Bürgerliche und einen Staat, der im Geld schwimmt – und die Krise im Service public.

DANIEL LAMPART IST IN DER AUSSAGE KNALLHART: «Zwei der schlechtesten Entwicklungen der letzten dreissig Jahre sind die Einführung des Manager-Systems und die Schaffung der Human-Resources-Abteilungen.» (Fotos: Yoshiko Kusano)

work: Daniel Lampart, nach zwei Erfolgen an der Urne, wie geht es Ihnen?
Daniel Lampart: Es geht mir wunderbar. Politisch ist es ein hervorragendes Jahr. Mit der Mehrheit der Stimmberechtigten eine AHVRentenerhöhung durchzubringen und ein paar Monate später eine Rentenverschlechterung bei den Pensionskassen abzuwehren, das gibt ein gutes Gefühl. Denn beides führt dazu, dass es den Menschen bei der Altersvorsorge bessergeht. Ausserdem dürfte jetzt im Bundeshaus niemand mehr Lust haben, in der Sozialpolitik etwas gegen die Arbeitnehmenden oder gegen Menschen mit unteren und mittleren Einkommen zu unternehmen. Zumindest nichts, bei dem eine Volksabstimmung nötig wird. 
 
Die vielbeschworenen «historischen Siege» also?
Man sollte mit dem Begriff «historisch» ja vorsichtig sein, aber bei der 13. AHV-Rente ist er definitiv angebracht. Das ist eine super Ausgangslage für unsere weiteren Vorhaben. Die Kaufkraft bleibt dabei ein zentrales Thema.
 
Bei der Altersvorsorge konnte die Situation in der AHV verbessert und eine Verschlechterung beim BVG verhindert werden. Bei den Lohnabhängigen summiert sich der Kaufkraftverlust aber zu teilweise existentiellen Summen.
Leider, ja. Zugespitzt gesagt: Was wir an der Urne erreicht haben, haben wir in den Lohnrunden bisher nicht geschafft. Dabei sind die wirtschaftliche Lage und die Situation der meisten Firmen gut bis sehr gut. Das Geld ist definitiv vorhanden, denn die Firmen konnten höhere Preise durchsetzen. Normalerweise war es bisher so, dass, wenn Unternehmen höhere Preise durchsetzen konnten, auch die Löhne entsprechend stiegen. Das wird jetzt in Frage gestellt. Wir haben es mit Arbeitgebern zu tun, die sehr hart in die Lohnrunde eingestiegen sind. Das war früher anders.
 
Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Das bedeutet, wir müssen neue Antworten entwickeln. Die Menschen haben diese Lohnerhöhungen verdient und brauchen sie auch. Das heisst aber auch, dass wir die Lohnverhandlungen teilweise völlig anders führen müssen. Wir müssen noch kämpferischer auftreten, uns noch besser koordinieren, und es braucht noch mehr direktes Engagement von den Arbeitnehmenden selbst. Wenn wir diese Lohnrückstände konsequent aufholen wollen, wird sich die Art und Weise, wie wir Löhne verhandeln, deutlich verändern müssen.
 
Worauf führen Sie die verhärtete Haltung der Arbeitgeberseite zurück?
Ich sage jeweils nur halb im Scherz: Zwei der schlechtesten Entwicklungen der letzten 30 Jahre sind die Einführung des Manager-Systems und die Schaffung der Human-Resources-Abteilungen. Dadurch hat man es am Verhandlungstisch nicht mehr mit Menschen zu tun, die echte Verantwortung in den Betrieben tragen. Denn diese Manager sind oft austauschbare Opportunisten, man muss es so deutlich sagen. Sie agieren sehr kalt und sind hauptsächlich auf die eigene Karriere bedacht. Die HRAbteilungen fungieren dabei häufig als Puffer oder Schutzschild der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmenden.

Die Menschen haben diese Lohnerhöhungen verdient und brauchen sie auch.

Und die Gewerkschaften haben keine Fehler gemacht?
Wir haben uns offenbar zu viel bieten lassen. Und wir waren wohl nicht schnell genug: Wir haben es jedenfalls nicht geschafft, rechtzeitig für den Teuerungsausgleich zu mobilisieren, als die Teuerung einsetzte. Das müssen wir jetzt nach und aufholen.
 
Haben Sie die Wucht der Teuerung unterschätzt?
Es ist immer schwierig, solche Teuerungsschübe im voraus zu erkennen. Der aktuelle war stark mit dem Ukrainekonflikt und verschiedenen seiner Folgeeffekten verbunden. Das ist aber gar nicht der entscheidende Punkt. Wir verhandeln schliesslich nicht auf Basis von Prognosen. Doch wenn die Teuerung einmal da ist, muss sie ausgeglichen werden. Als Gewerkschaft müssen wir lernen: Sobald sich an der Teuerungsfront etwas verändert, braucht es sofort eine andere Präsenz. Das ist sicher eine wichtige Lehre aus den letzten Jahren: Unsere gewerkschaftliche Präsenz in der Lohnfrage muss noch stärker werden.
 
Nach den Lehrbüchern der bürgerlichen Ökonomie müsste die Verhandlungsposition der Arbeitnehmenden angesichts des viel beklagten Fachkräftemangels eigentlich sehr gut sein.
Korrekt! Und tatsächlich sind Arbeitskräfte gesuchter, und einzelne bekommen auch mehr Lohn. Teilweise verdienen jüngere, die neu in ein Unternehmen kommen, fast gleich viel wie ihre erfahreneren Kolleginnen und Kollegen, die ihnen die Arbeit beibringen müssen.
 
Mit welchen Auswirkungen auf das Betriebsklima?
Das führt verständlicherweise zu Unmut und schlechter Stimmung. Das ist ein Problem, das die Arbeitgeber unterschätzen. Aber wir verhandeln in erster Linie für diejenigen, die bereits im Betrieb sind, nicht für Neueinsteigende. In einer Phase wie dieser ist es klar unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich der Arbeitskräftemangel auch in höheren Löhnen niederschlägt. Aber wir sind dabei auf die Arbeitgeber angewiesen. Wenn die sich partout weigern, dann müssen wir ihnen erst einmal beibringen, dass sie kooperieren müssen.
 
Und wie?
Das gewerkschaftliche Repertoire ist sehr breit gefächert. Es beginnt mit klaren Forderungen und gut vorbereiteten Verhandlungen. Am Ende steht dann irgendwann der Streik. Aber zwischen konstruktiven Verhandlungen und Streik gibt es noch sehr viele Möglichkeiten. Das reicht von koordinierten Gesprächen einzelner Arbeitnehmender mit ihren Vorgesetzten über die Abstimmung zwischen verschiedenen Firmen, in denen verhandelt wird, bis hin zu Protestpausen. Ich denke, wir müssen von diesem Repertoire wieder stärker Gebrauch machen, ohne gleich zum Streik greifen zu müssen. Aber auch dies können.
 
Was passiert eigentlich, wenn die Kaufkraft der breiten Schichten weiter sinkt?
Die unmittelbare Folge ist klar: Es geht den Menschen schlechter. Sie arbeiten gleich viel, vielleicht sogar mehr, haben aber weniger Geld zum Leben. Aber es hat auch politische und gesamtwirtschaftliche Folgen.
 
Haben Sie Beispiele?
Wenn man sehen will, wie sich das anfühlt, gibt es zwei sehr anschauliche Beispiele grosser Länder. Zum einen die USA, wo die Mittelschicht in vielen Regionen regelrecht erodiert ist – sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungssektor. Es gibt dort Superreiche und Gutsituierte, aber auch unzählige Menschen mit finanziellen Problemen. Das führt zu unerträglichen Zuständen mit entsprechenden politischen Auswirkungen. Zum anderen Deutschland. Hier sehen wir, dass eine grosse Volkswirtschaft in einer schwierigen konjunkturellen Situation steckt – einfach weil die Löhne mit der Teuerung und der Entwicklung der Lebenshaltungskosten nicht Schritt gehalten haben. Wir Gewerkschaften wollen auch dafür sorgen, dass es in der Schweiz nicht so weit kommt.
 
In den offiziellen politischen Debatten scheint die Kaufkraft der grossen Mehrheit ein kleines Problem zu sein. Lieber sprechen die bürgerliche Mehrheit und der Bundesrat vom kurz vor dem Bettelstock stehenden Bund. Und streicht möglichst alles zusammen, was den Anschein hat, sozial zu sein oder ökonomisch ausgleichend. Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Wenn die Bevölkerung abstimmt, zeigt sich, dass soziale Fortschritte durchaus möglich sind. Das ist sehr positiv. Aber wir haben eine Regierung und ein Parlament, das sehr weit weg von der Bevölkerung politisiert. Neu ist, dass wir zum ersten Mal meistens ein 4-zu-3-Verhältnis von FDP und SVP gegen Mitte und SP in unserem Bundesrat haben.

Wenn die Bevölkerung abstimmt, zeigt sich, dass soziale Fortschritte durchaus möglich sind.

Wie wirkt sich das politisch aus?
Die SVP hat eine Stellung, die sie nicht einmal zu Blochers Zeiten im Bundesrat hatte. Es ist erschreckend zu sehen, wie Bundesrat und Parlament in vielen Bereichen Politik gegen die Arbeitnehmenden machen. Allein schon, dass bei der AHV der Teuerungsausgleich in Frage gestellt wurde. Wir sehen laufende und geplante Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, also des Arbeitsgesetzes. Das sind völlig neue Entwicklungen. Wir wissen zwar die Bevölkerung auf unserer Seite, aber wir wollen ja vorwärtskommen. Arbeit, Familie und Freizeit müssen nebeneinander Platz haben. Wir hoffen, dass dieses Jahr eine Lehre für Bundesrat und Parlament war! Aber das werden wir sehen.

Wenn wir ganz konkret die vom Bundesrat geplante Finanzierung der 13. AHV-Rente ausschliesslich über die Mehrwertsteuer anschauen, sieht es nicht gerade so aus, als hätten sich die Damen und Herren sehr beeindrucken lassen.
Das stimmt. Aber man muss auch sagen, für unsere Gegnerinnen und Gegner war das Volks-Ja zur 13. AHV-Rente ein Riesenschock, regelrecht traumatisch. Unser Erfolg ist für sie schwer zu akzeptieren.
 
Wie äussert sich dieses bürgerliche «AHV-13-Trauma»?
Nach der Abstimmung hiess es von rechts sofort: «Wir finanzieren das nicht!» Es gibt immer noch Leute im Parlament, die das sagen. Dann folgte: «Lassen wir doch nochmals übers höhere Rentenalter abstimmen oder verknüpfen die 13. Rente mit einem unsozialen Finanzierungsvorschlag. Und wenn die Abstimmung dann nicht in unserem Sinne ausgeht, schaffen wir den AHV-Dreizehnten wieder ab.» Das ist maximal aggressiv. Aber es ist klar, die 13. Rente muss finanziert werden. Sie kostet etwas. Das haben wir immer gesagt, und zwar möglichst über Lohnbeiträge, weil das am sozialsten wäre. Sonst gibt es Defizite und damit auch Druck auf die Leistungen. SVP und FDP verweigern hier im Parlament die Arbeit. Doch sie vergessen dabei, dass die AHV-Defizite aus der Bundeskasse bezahlt werden müssen, wenn das Parlament keine Lösung findet. Die Altersvorsorge ist eines der aktuellen politischen Handlungsfelder, ein anderes ist die Zusammensetzung der Arbeit (verkürzt: wer was genau arbeitet und wie viel das einbringt). Die funktioniert ja, wie wir wissen, nur dank Zuwanderung.
 
Und da gibt es gleich zwei Entwicklungen. Auf der einen Seite nimmt die SVP mit ihrer 10-Millionen-Initiative einen neuen Anlauf, die Personenfreizügigkeit mit der EU abzuschaffen. Auf der anderen Seite scheinen die bürgerlichen Parteien und Teile der Arbeitgeber immer noch damit zu liebäugeln, den Schweizer Lohnschutz über die Bande eines Rahmenabkommens zu schwächen. Wo stehen die Gewerkschaften?
Wir Gewerkschaften setzen uns dafür ein, dass alle, die hier im Land sind, stabile und sichere Aufenthaltsbedingungen haben. Das ist das Wichtigste beim Migrationsrecht, nur dann kann man sich überhaupt wehren, nur dann gibt es gute Arbeitsbedingungen. Wir kennen das von früher, als das nicht so war: Schwarzarbeit und schlechte Löhne waren die Folge des unmenschlichen Saisonnier-Statuts. Andererseits müssen die flankierenden Massnahmen auch den Schweizer Arbeitnehmenden nützen. Da besteht ein enormer Handlungsbedarf bei den Löhnen. Aber es gibt auch eine Reihe anderer notwendiger Verbesserungen.

Zum Beispiel?
Nehmen Sie die Kinderbetreuung oder das Wohnen – da haben wir offensichtlich riesige Lücken. Es läuft sogar in die falsche Richtung, das ist das Schlimmste. Wir haben im reichsten Land der Welt eine Krise des Service public.

Lesen Sie im zweiten Teil des Gesprächs, wo Lampart diese Service-public-Krise festmacht und warum er sagt: «Die Kantone haben uns das Geld weggenommen.»

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