Wohnungskrise am Stadtrand von Zürich: Arbeitersiedlung weicht Neubauten
Büezerinnen und Büezer werden ausquartiert

An keinem anderen Ort der Stadt Zürich ragen mehr Bauprofile in die Höhe als in Schwamendingen. Das Zürcher Aussenquartier ist im ­Umbruch, und Tausende von ­Bewohnerinnen und Bewohnern sind auf der Suche nach einem neuen Zuhause.

FRÜHERES ZUHAUSE: Hier in Schwamendingen fanden Ahmed L. und seine Familie bezahlbaren Wohnraum. Doch die einstige Arbeitersiedlung wird abgerissen, damit Platz für Neubauten entsteht. (Foto: isc)

Ahmed L. (53) ist in Bagdad geboren und flüchtete 2002 vor dem Krieg im Irak in die Schweiz. Seit mehr als zehn Jahren lebt er mit seinen beiden Kindern in der Stadt Zürich. Mit einem Job als Schweisser in ­einem Industriebetrieb konnte er sich das Leben und die Miete in der Stadt leisten. Doch nach einem Unfall, unter dessen Folgen er noch heute leidet, und der Trennung von seiner Frau kündigte ihm die Hausverwaltung auch noch die Vierzimmerwohnung in Schwamendingen, die 1550 Franken pro Monat kostete.

Der Grund: Die Besitzerin, die Zurich Invest AG, will mit Neubauten mehr Rendite machen. Ahmed L. sagt: «Damals war ich zuversichtlich, dass wir innerhalb der Frist von zwei Jahren eine neue bezahlbare Wohnung im Quartier finden würden.»

Heimat der Kinder

Vor allem für seine Kinder im Primarschulalter wollte Ahmed L. unbedingt eine Wohnung finden, die in der Nähe ihrer Schule liegt. Er habe im Internet immer wieder freie Wohnungen im Quartier gesehen, doch diese waren für ihn, der inzwischen als Betreuer in ­einem Hort arbeitete, meist unbezahlbar. Während die Miete einer Dreizimmerwohnung in Schwamendingen im Durchschnitt bei 1260 Franken monatlich liegt, waren die Prei­­se der ausgeschriebenen Wohnungen im Quartier inzwischen meistens doppelt so hoch. Und bezahl­bare Genossenschaftswohnungen oder Wohnungen der Stadt Zürich zur Kostenmiete waren fast nie ausgeschrieben.

Ahmed L. sagt:

Nach einem Jahr erfolgloser Suche und Hunderten von E-Mails kamen in mir Angst und Trauer auf.

Und er war nicht allein in dieser Situation: Die meisten der etwa 500 Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung an der Grosswiesenstrasse hatten das gleiche Problem. Denn die Zurich Invest AG, eine Tochtergesellschaft der Zurich Versicherungen, hat keinen etap­­­pierten Abriss der Siedlung vorgesehen und allen gleichzeitig gekündigt.

VOR DEM ABBRUCH: Fast alle der 500 Menschen, die im Quartier an der Grosswiesenstrasse zu Hause waren, mussten sich gleichzeitig auf die Suche nach einer neuen Wohnung machen. (Foto: isc)

Die Zurich Invest AG will zwar keine Luxuswohnungen bauen, aber die neuen Wohnungen wird sie zu den frappant gestiegenen Marktpreisen vermieten. Die 255 geplanten Neubauwohnun­gen kommen also nicht nur zu spät, sie werden für die meisten der bisherigen Bewohnerinnen und Bewohner auch nicht bezahlbar sein. Auch die Pensionskasse des Kantons Zürich (BVK), weitere Investoren und verschiedene Genossenschaften planen derzeit den Abriss von grossen Sied­lungen im Quartier. So ragen überall Bauprofile in die Höhe, und auch sehr viele Alteingesessene des Quartiers sind auf Wohnungssuche.

Demo am Schwamendingerplatz

Diese Entwicklung im Arbeiterquartier Schwamendingen macht auch dem Mieterverband und der Basisorganisation Mietenplenum Sorgen. Ende 2023 versammelten sie die Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung an der Grosswiesen­strasse, um nach Anschlusslösungen für die Betroffenen zu suchen. Ahmed L. sagt: «Ich habe da auch viele meiner Nachbarinnen und Nachbarn erstmals kennengelernt, und wir konnten uns ­gegenseitig stärken.» Seither gab es auch immer mehr Medienberichte über die schwierige Situation vieler Mieterinnen und Mieter in Schwamendingen. Ahmed L. sagt:

Wir haben sogar eine ­Demonstration auf dem Schwamendingerplatz gegen die Wohnungskrise organisiert, doch eine Wohnung hatte ich weiterhin nicht in Aussicht.

996 Franken Miete

Wenige Wochen vor dem Ablauf der Kündigungsfrist Ende September organisierten das Mietenplenum und der Mieterverband ein Treffen mit sechs Wohnbaugenossenschaften und der Liegenschaftenverwaltung der Stadt Zürich. Ahmed L. sagt: «Ich habe in dieser Zeit sehr viel Unterstützung erhalten und hatte dann auch eine Notwohnung der Stadt in Aussicht.» Nur zehn Tage vor dem Ablauf der Frist gab es dann aber noch eine andere, bessere Lösung. Die Baugenossenschaft Bahoge konnte Ahmed L. und seinen Kindern eine Dreizimmerwohnung für 966 Franken zur Verfügung stellen. Nur etwa 300 Meter entfernt von der Schu­­­le seiner Kinder. Ahmed sitzt auf dem kleinen Balkon seiner neuen Wohnung und sagt:

Auch diese Wohnung wird abgerissen, aber wir können hier nochmals mindestens zwei Jahre bleiben, dafür bin ich sehr dankbar!


Gartenstadt SchwamendingenUmbruch, Abbruch, Aufbruch

Unia-Mann Köbi Hauri (72) wohnt seit ­seiner Pensionieru­ng in ­Schwamendingen. Der ehemalige Hausmeister der ETH hat im «Sunnige Hof» eine neue Heimat gefunden und kämpft jetzt für andere, die weniger Glück hatten.

GENOSSENSCHAFTSSIEDLUNG: Unia-Mann Köbi Hauri hatte Glück mit seiner Wohnung im «Sunnige Hof». (Foto: Raja Läubli)

Köbi Hauri verteilt im Stadtzentrum von Zürich Abstimmungsflyer zu den beiden Mietrechtsvorlagen. Er sagt:

Wir müssen die Rechte der Mieterinnen und Mieter gegenüber den Eigen­tümern stärken, statt sie zu schwächen.

Gerade jetzt, wo der Druck durch Renditelogik und Spekulation auf dem Wohnungsmarkt immer grösser werde. Hauri selber ist von dieser Logik verschont, denn er wohnt seit 2017 für 1750 Franken in einem Neubau der Genossenschaft Sunnige Hof in einer Dreieinhalbzimmerwohnung unweit des Bahnhofs Stettbach. Hauri schwärmt: «Mit der S-Bahn brauche ich nur fünf Minuten ins Stadtzentrum von ­Zürich.»

Gartenstadt

Als Schwamendingen 1934 in die Stadt Zürich eingemeindet wurde, war das Stadtzentrum noch weit weg von Stettbach. Die Bevölkerung des bäuerlich geprägten Stadtteils verzehnfachte sich bis in die 1960er Jahre auf 33 000 Personen. Die neu zu­gezogenen Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter fanden in Schwamendingen bezahlbaren Wohnraum mit grosszügigen Grünflächen und Gemüsegärten. Auch eine Stiftung der ­Migros kaufte preisgünstiges Land und baute im Mattenhof Einfamilienhäuser, die für den Neubau der Genossenschaft Sunnige Hof weichen mussten. Die Anzahl der Wohnungen konnte damit von 30 auf 150 erhöht werden.

BAUPROFILE NOCH UND NÖCHER: Schwamendingen wächst immer weiter. (Foto: Raja Läubli)

Köbi Hauri sagt:

Ich sehe meine Wohnung als Privileg, denn es gibt ein genossenschaftliches Leben, und es ist nicht übermässig verdichtet.

Tatsächlich fühlt sich der Mattenhof trotz Verdichtung immer noch nach Gartenstadt an. Die Bewohnerinnen und Bewohner verschiedener Gene­rationen treffen sich in den grosszügigen Freiräumen zwischen den Backsteinhäusern, die Spielplätze sind voller Kinder, und der Autoverkehr bleibt vor den Toren der Siedlung. Nirgends in der Stadt gibt es so viel Wohnraum von Genossenschaften wie in Schwamendingen, und viele von ihnen haben Neubauprojekte. Dieser attraktive und bezahlbare Wohnraum ist dringend nötig, denn die Stadt erwartet in Schwamendingen in den nächsten zwanzig Jahren ein Bevölkerungswachstum von weiteren 12 000 Personen.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.