Grosses work-Gespräch mit SGB-Chef-Ökonom Daniel Lampart (Teil 2)
«Chefs sollten die Leute nicht mit unnützen Ideen vom Arbeiten abhalten. Dann kommt’s gut!»

Im 1. Teil des grossen work-Gesprächs hat SGB-Chefökonom Daniel Lampart die Krise im Service public ausgerufen. Hier erklärt er sie und rechnet vor, wie voll die Staatskassen tatsächlich sind. Ausserdem geht’s um Mindestlöhne, die 10-Millionen-Initiative der SVP, die bundesrätlichen Verhandlungen mit der EU – und darum, warum weniger Chefs für die Wirtschaft wohl gut wären.

DANIEL LAMPART PRANGERT DIE KANTONE AN: «Sie haben uns das Geld weggenommen, ihre Kassen gefüllt, Überschüsse gemacht und teilweise Steuern für Leute gesenkt, die es nicht nötig hatten.»  (Fotos: Yoshiko Kusano)

work: Eine Krise des Service public? Übertreiben Sie hier nicht? Bei allen Herausforderungen: Ich kann jederzeit ins Spital gehen, die Kinder besuchen die Schule, und die SBB fahren mich in der Regel sicher von A nach B.
Daniel Lampart: Wir haben so viel Geld wie noch nie. Trotzdem haben wir Spitäler, die kurz vor dem Konkurs stehen oder massive Finanzierungsprobleme haben – bis hin zu einem der Spitzenspitäler wie dem Inselspital. Und wer heute sein Kind in die Schule schickt, hat keine Garantie, dass es von einer ausgebildeten Lehrerin oder einem ausgebildeten Lehrer unterrichtet wird. Das ist ein enormes Versagen, einerseits auf Bundesebene, aber besonders stark auf Kantons-ebene. Die Kantone haben zum Beispiel nicht genügend Lehrkräfte ausgebildet. Und sie haben nicht dafür gesorgt, dass ihre Spitäler solide finanziert sind.

Wo setzten die Kantone denn stattdessen ihre Prioritäten?
Sie haben uns das Geld weggenommen, ihre Kassen gefüllt, Überschüsse gemacht und teilweise Steuern für Leute gesenkt, die es nicht nötig hatten. Das sind keine Investitionen in die Zukunft. Was die Arbeitnehmenden brauchen, sind aber solche Investitionen in die Zukunft – für sich und für ihre Kinder. Und das Geld dafür ist definitiv vorhanden.

Da sagt Finanzministerin Karin Keller-Sutter aber ganz etwas anderes. Sie rechnet die Schweiz arm.
Die Frage ist doch: Stimmt diese Rechnung überhaupt? Wir sind sehr erstaunt über die Analyse von Bundesrätin Keller-Sutter. Tatsache ist: Der Schweizer Staat hat mehr Vermögen als Schulden. Viele Kantone und Gemeinden haben riesige Überschüsse gemacht – auch von den Steuern der Arbeitnehmenden. Gleichzeitig haben sie bei Prämienverbilligungen, Schulen und Spitälern gespart. Das Geld liegt also in den öffentlichen Kassen. Es kann nicht sein, dass die öffentliche Hand auf Kosten der Bevölkerung Vermögen anhäuft. Das ist völliger Unsinn. Und das ist unser Problem in der Schweiz: Jede und jeder von uns hat bei der öffentlichen Hand ein Sparkonto von 12 000 Franken. Anders gesagt, das letzte Problem, das wir haben, um den Service public zu gewährleisten, den die Schweiz in der Schule oder im Gesundheitswesen braucht, ist das Geld. Geld ist überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, wir haben mehr als genug davon.

Wenn Geld nicht das Problem ist – was dann?
Wir haben schon bei Covid gesehen, dass einige Kantonsregierungen die Probleme nicht im Griff haben. Und sie haben sich durch Wegschauen zusätzliche Probleme aufgehalst. Das wirft grundsätzliche Fragen auf. Aber im Moment können wir das nicht ändern, und die Kantonsregierungen müssen das anpacken. Und die Gewerkschaften erwarten, dass sie das so schnell wie möglich tun. Es kann nicht sein, dass unsere Kinder nicht die beste Ausbildung und Betreuung erhalten. Es kann nicht sein, dass wir nicht die besten und effizientesten Spitäler der Welt haben.

Es kann nicht sein, dass die öffentliche Hand auf Kosten der Bevölkerung Vermögen anhäuft.

Was machen die Gewerkschaften konkret?
Im Moment arbeiten wir an den Prämienverbilligungen. Zusammen mit den Parteien, die mit uns kooperieren, versuchen wir, auf kantonaler Ebene höhere Prämienverbilligungen durchzusetzen. Ausserdem arbeiten wir mit den Lehrerinnen- und Lehrerverbänden daran, dass die Menschen, die den Lehrberuf ergriffen haben, eine möglichst gute Ausbildung erhalten und die Arbeitsbedingungen im Lehrberuf gut sind. Das ist eine gewerkschaftliche Aufgabe. Im Gesundheitswesen vertreten wir natürlich die Pflegenden. In der Pflege haben wir seit Jahren einen Notstand. Aber bei der Spitalfinanzierung sind wir darauf angewiesen, dass die Kantonsregierungen handeln. Da sind wir Gewerkschaften nicht unmittelbar Handelnde. Aber wir weisen immer wieder darauf hin, dass die öffentliche Hand Riesenüberschüsse hatte und volle Kassen hat.

Das rechnen die Gewerkschaften seit langem Jahr für Jahr vor.
Ja. Und unterdessen kommt auch der von den Wirtschaftsverbänden finanzierte Think-Tank von Avenir Suisse zum gleichen Schluss: Die Kassen der öffentlichen Hand sind voll.

Eine enorme Herausforderung ist auch der ökologischsoziale Umbau der Wirtschaft. Da mangelt es an Geld und mehr noch an den benötigten Fachkräften in den besonders geforderten Branchen.
Es gibt viele Leute, die produktiv arbeiten, aber wir haben auch einige in den Betrieben, die nicht so produktiv sind. Wir haben heute doppelt so viele Chefs wie vor 20 Jahren. Eine Klage, die wir im Gewerkschaftsalltag sehr oft hören, ist: «Der Chef nervt, aber wir wissen nicht, was er eigentlich arbeitet.» Wir haben eigentlich genügend Leute, und ich glaube, das Beste für die Schweizer Wirtschaft wäre, die Leute arbeiten zu lassen, statt dass die Chefs sie mit unnützen Ideen, die sie im Managementkurs gelernt haben, von der Arbeit abhalten. Das klingt vielleicht etwas provokativ, aber es liegt so viel ungenutztes Potential brach. Denn die Leute wissen in der Regel sehr gut, was sie tun müssen. Das ist nicht das Problem. Das Wichtigste ist, dass man die Leute arbeiten lässt, dann sind viele Dinge erledigt, die im Moment nicht erledigt werden können.

Was bedeutet das für das Ansehen der Berufe?
Wir haben vor allem eine Schwierigkeit bei der Lehre. In Sonntagsreden von Bundesräten und Arbeitgebern heisst es zwar, die Lehre sei der Königsweg, aber die Realität ist, dass zwar viele eine Lehre machen, aber viele nach der Lehre den Beruf wechseln müssen. Wenn man Bäcker lernt, verdient man selten 5000 Franken, schon gar nicht am Anfang. In vielen Berufen – vor allem in Berufen, wo mehr Frauen arbeiten – sind Löhne unter 5000 Franken leider eine sehr verbreitete Realität. Das ist ein Riesenproblem, denn wer eine Lehre macht, sollte einen Beruf haben, von dem er oder sie leben kann.

Wir haben heute doppelt so viele Chefs wie vor 20 Jahren.

Die Gewerkschaften führen seit einem Vierteljahrhundert eigentlich eine einzige Kampagne für Mindestlöhne.
Ja, und das bleibt zentral. Das neue Ziel heisst: Wer eine Lehre abgeschlossen hat, soll mindestens 5000 Franken verdienen. Wir wissen, dass wir in vielen Berufen noch weit davon entfernt sind, aber das müssen wir aufholen. Die Lehre muss wieder attraktiv werden. Menschen mit Lehrabschluss müssen von ihrem Lohn leben können. Das ist eines unserer grossen Ziele für die nächsten ein bis zwei Jahre.

Wann ist das eigentlich verschwunden, dieses Prinzip, dass man von einem 100%-Job leben kann?
Viele der typischen sogenannten Frauenberufe haben zum einen tiefere Löhne, zum anderen ist es so, dass man mit der Erfahrung auch nicht viel mehr verdient – im Unterschied zu den «Männerberufen». Das kommt teilweise wie aus einer anderen Zeit, als Frauen eine Lehre machten, danach kurz erwerbstätig waren, aber schliesslich heirateten und aus dem Erwerbsleben verschwanden.

Diese Zeit ist längst vorbei…
Ja, aber bei den Berufen und bei den Löhnen ist diese Denkweise leider noch eine Realität. Es ist wie ein uraltes Frauenbild, das da noch nachwirkt. Von diesen Löhnen konnte man eigentlich nie richtig leben. Aber heute ist es so, dass man von diesen Löhnen leben muss. Das bedeutet, dass Frauen wie Männer Löhne haben müssen, die zum Leben reichen, vor allem wenn sie eine Ausbildung gemacht haben. Das ist das absolute Minimum.

Mehr Kaufkraft dank weniger Lohndruck und tieferen Mieten verspricht auch die SVP mit Ihrer 10-Millionen-Initiative. Ich habe das Gefühl, die Arbeitgeber und die bürgerlichen Parteien nehmen das so wenig ernst, wie sie die Masseneinwanderungsinitiative ernst genommen haben.
Es ist erschreckend, diese Initiative wird im Bundeshaus tatsächlich nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit behandelt. Dabei geht es jetzt relativ schnell: Was in dieser Initiative völlig unterschätzt wird: Es steht zwar «10-Millionen-Schweiz», aber die Probleme einer allfälligen -Umsetzung beginnen bereits bei 9,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern.

Warum 9,5 Millionen?
Bei 9,5 Millionen Einwohnerinnen müssten wir als Schweiz eine Flüchtlingspolitik machen, ungefähr wie sie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán macht: also eine extrem harte, unmenschliche Flüchtlingspolitik. Und ab 10 Millionen Einwohnern hätte sie für alle fatale Folgen. Die SVP-Initiative setzt vieles aufs Spiel, was wir in den vergangenen Jahren sozialpolitisch erreicht haben. Und sie gefährdet die Schweizer Löhne und würde die Arbeitsbedingungen generell erheblich verschlechtern.

Wird die Initiative unterschätzt?
Sie wird von Arbeitgeberverbänden und den bürgerlichen Parteien völlig unterschätzt. Die Gewerkschaften haben sich bereits an diese Arbeit gemacht. Wir – also die ganze Nicht-SVP-Schweiz – müssen uns dringend bereitmachen, diese Initiative zu bekämpfen.

Was ist dazu aus Ihrer Sicht nötig?
Arbeitgeberverbände und bürgerliche Parteien dürfen den wahren Sorgen der Menschen nicht länger die kalte Schulter zeigen. Wir haben jetzt über die Löhne gesprochen: Die Firmen profitieren von den Bilateralen, und die Arbeitnehmer müssen auch etwas davon haben. Ein weiteres Problem ist natürlich die Wohnsituation. Auch die ist erschreckend. Es gibt von den Mehrheiten im Bundesrat und dem Parlament keine Vorschläge, wie man das Wohnproblem entschärfen könnte. Was wir brauchen, ist bezahlbarer Wohnraum und mehr davon. Die öffentliche Hand muss ihre Verantwortung wahrnehmen. Wir können uns das leisten, aber es ist ein grosser Kraftakt, eine Generationenaufgabe.

Die SVP-Initiative setzt vieles aufs Spiel, was wir in den vergangenen Jahren sozialpolitisch erreicht haben.

Der Zusammenhang zwischen den Bilateralen und dieser Initiative ist ja sowohl von der SVP gewollt als auch realpolitisch nicht von der Hand zu weisen. Wie ist Ihre Einschätzung zum aktuellen Stand der Verhandlungen mit der EU?
Die EU verhandelt sehr gut und knallhart. Die Schweiz nicht so gut. Wir sind wieder in einer Situation, wo Teile des Lohnschutzes auf dem Spiel stehen. Wir haben Arbeitgeber im Inland, die das Problem verwedeln. Also die Spitzen der Arbeitgeber, nicht das Gewerbe, nicht die Basis.

Wo sehen Sie die Realitätsverweigerung der Arbeitgeberverbände konkret?
Ein paar Beispiele: Statt die Probleme bei der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen zu lösen, gibt es Probleme beim Kündigungsschutz. In der Schweiz kann man Leute relativ einfach auf die Strasse stellen, wenn sie sich im Betrieb für etwas einsetzen. Stellen Sie sich vor: Jemand sieht einen Unfall und macht darauf aufmerksam – am Ende wird er noch entlassen. Das ist wirklich pervers. Es gibt viele solcher Fragen, die im Raum stehen.

Ein zentrales Problem ist die EU-kompatible Sicherung des Schweizer Lohnschutzes.
Wir haben dazu viele Ideen. Man könnte etwa festlegen, dass nur Firmen Aufträge erhalten, die sich korrekt verhalten. Dann müsste man weniger kontrollieren. Bisher haben wir leider wenig Bewegung von Arbeitgeberseite gesehen.

Könnte man sagen, dass die Verhandlungen mit der EU aus Gewerkschaftssicht auch ein innenpolitisches Problem sind?
Es ist insofern ein innenpolitisches Problem, als dass die Schweiz einfach nicht gut ist in der Wahrnehmung der eigenen Interessen. Man darf der EU keinen Vorwurf machen, wenn sie für ihre Interessen eintritt. Das ist ihre Aufgabe, so wie wir Gewerkschaften für die Arbeitnehmenden kämpfen müssen. Aber die Schweiz sollte auch für die eigenen Interessen kämpfen, dann wäre die Chance grösser, dass es ein gutes Resultat gibt. Noch laufen die Verhandlungen, und noch ist zudem unklar, ob der Strommarkt liberalisiert werden muss – und damit die Preise so durch die Decke gehen würden wie in Deutschland. Ebenfalls unklar ist, was mit der Bahn geschehen wird. Teile des Service public sind also ebenfalls gefährdet. Das ist die Ausgangslage.

Was sind die nächsten Schritte der Gewerkschaften?
Wir werden jetzt sehen, was aus Brüssel zurückkommt. Ich muss sagen, es schaut nicht so gut aus. Wir werden das dann bewerten, alle Aspekte für die Arbeitnehmenden anschauen und kritisch würdigen. Danach werden wir unsere Position beziehen. Ich sehe nicht, wie man ein solches Verhandlungsergebnis akzeptieren könnte. Das braucht eine kritische Würdigung. Wir werden sehen, ob wir innenpolitisch etwas machen können oder nicht. Aber was bisher absehbar ist, ist definitiv nicht im Sinne der Arbeitnehmenden. Das wollen und müssen wir ändern!

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