Das System DPD: Zwei Ex-Chefs packen aus
«Diese Firma müsste man schliessen!»

Kaderleute reden erstmals öffentlich über das System DPD. Ihre Aussagen zeichnen einen direkten Weg von bizarren Managemententscheiden zur Ausbeutung der Fahrerinnen und Fahrer.

DIE LEIDTRAGENDEN: DPD-Mitarbeitende müssen ausbaden, was die Teppich­etage verbockt. (Foto: Keystone)

Eric Liechti* braucht den Satz mehrmals: «Das kann gar nicht aufgehen!» Der Kadermann weiss, wovon er spricht. Jahrelang sass er im obersten Management von DPD, der grössten privaten Paketzustellerin der Schweiz. Vor gut drei Jahren enthüllte die Unia haarsträubende Zustände:

Arbeitstage von zwölf und mehr Stunden, chronisch überladene Lieferwagen, willkürliche Lohnabzüge.

DPD wies die Kritik stets weit von sich. Doch jetzt bestätigen ehemalige Top-Leute des Unternehmens: Genau so war es. Und heute ist es kaum besser. Ihre Schilderungen erlauben erstmals einen Blick hinter die Kulissen.

Weltfremde Vorgaben: Das Management

Bei DPD bekommt jede Fahrerin, jeder Fahrer eine sogenannte Tour zugeteilt. Ein Gebiet, in dem es Pakete auszuliefern und am Nachmittag abzuholen gilt. Je nach Wochentag und Saison sind das bis zu 200 Stops pro Tag. Doch laut Ex-Kadermann Liechti wurden die Touren rein auf dem Papier entworfen: «Da ist nie jemand mitgefahren und hat die Zeit gestoppt.» Die Folge:

In den meisten Fällen sei eine Tour in den knapp neun Stunden, die im Arbeitsvertrag stehen, «nicht machbar».

Beispiele für weltfremde Vorgaben und Entscheide der DPD-Spitze gebe es noch und noch, so Liechti. Etwa bei den Tarifen. So habe man mit dem Nahrungsmittelkonzern Nestlé die Auslieferung für nur gerade 4 Franken 50 pro Paket vereinbart. Dabei koste DPD schon nur das Sortieren eines Pakets rund 3 Franken, das Ausliefern zusätzlich 2 bis knapp 4 Franken. «Solche Tarife können gar nicht aufgehen!»

Auch handle DPD mit Firmen einen fixen Tarif pro Paket aus, unabhängig vom Gewicht. «Es ist doch jedem klar, dass schwere Pakete mehr Arbeit machen!» Als Folge dieser Preispolitik nutzen Firmen aus der Autobranche DPD, um Pneus oder ganze Räder billig zu verschicken. Buchstäblich auf dem Rücken der DPD-Mitarbeitenden: Sowohl Fahrer (zum Artikel) als auch Logistiker (zum Beitrag) berichteten work von Paketen, die 40, manchmal gar 50 Kilo schwer sind. Das ist illegal. Maximal zumutbar laut Seco sind 25 Kilo.

Eine weitere Vorgabe der Teppichetage: Bei den Paketen, die gegen Unterschrift ausgeliefert werden müssen, verlangt DPD an jedem Tag eine fixe Quote an erfolgreichen Zustellungen. Laut Liechti um die 90 Prozent, klar kommuniziert worden sei die Zahl nie. Völlig absurd sei das:

Der Fahrer kann ja nicht beeinflussen, ob die Leute zu Hause sind.

Die DPD-Führung, so der Insider, wisse haargenau, dass ihr Geschäftsmodell mit normalen Arbeitsstunden und gesetzeskonformen Praktiken nicht funktionieren würde. Dass sie trotzdem daran festhalten könne, habe mit den Subunternehmern zu tun.

Verschaukelt und vertröstet: die Subunternehmer

Sie sind der Dreh- und Angelpunkt im System DPD. Fahrerinnen und Fahrern, die einen guten Job machen, bietet das Unternehmen an, eine Stufe aufzusteigen. Denn von den rund 900 Fahrerinnen und Fahrern in den weiss-roten Lieferwagen sind derzeit etwa 700 nicht direkt bei DPD angestellt, sondern bei einem von insgesamt 65 Subunternehmen. Sie sind es, die für den Konzern die Drecksarbeit machen müssen. Indem sie Fahrerinnen und Fahrer fast täglich zu Gratis-Überstunden nötigen und ihnen Geldstrafen vom Lohn abziehen. Sie müssen die Fahrzeuge kaufen, die oft überladen und in bedenklichem Zustand durch die Schweiz fahren. Auf dem Papier sind sie die Arbeitgeber, nicht DPD.

Sebastian Widmer* war Leiter eines DPD-Depots und somit verantwortlich für mehrere Subunternehmer. Er sagt:

Es war allen klar: Wir haben die Subunternehmer, um die Verantwortung abzuschieben.

Widmer kritisiert auch die Rekrutierung von neuen Subunternehmern. Interessenten sei nicht klar gesagt worden, was an Verantwortung und Kosten alles auf sie zukomme. Auch habe DPD nicht abgeklärt, ob die Person überhaupt qualifiziert sei: «Ob einer das Rüstzeug hat, eine Firma und Mitarbeitende zu führen, das spielte keine Rolle.»

Laut dem ehemaligen DPD-Subunternehmer Djevit D. betragen die Kosten einer Tour, einschliesslich Löhnen und Versicherungen, etwa 10’000 Franken im Monat. Er sei aber am Schluss von DPD nur noch mit 6500 bis 7200 Franken pro Tour entschädigt worden, so D. Ende Oktober im SRF-«Kassensturz». Die beiden Firmen des einstigen Vorzeige-Subunternehmers mit insgesamt 20 Fahrern sind heute in Konkurs. Der 45jährige sagt:

Ich habe meine Gesundheit kaputtgemacht, meine Familie vernachlässigt. Heute frage ich mich: wofür?

Auch Konkurse von Subunternehmern seien Teil des Systems DPD, sagt Ex-Kadermann Eric Liechti: «Wenn die merkten, dass es nicht rentierte, haben wir sie vertröstet und auf Zeit gespielt. Bis sie umgefallen sind.»

Wie eine Sekte: der CEO und seine Jünger

Profiteur des Systems DPD ist zum einen die Eigentümerin. Es ist die französische Post, zu hundert Prozent in Staatsbesitz. Laut einer Schätzung fliessen pro Jahr 5 bis 6 Millionen Franken Gewinn nach Frankreich ab. Zum anderen die Schweizer Geschäftsleitung, mit sechsstelligen Jahressalären plus Bonus, angeführt von CEO Tilmann Schultze (58). 

Ex-Kadermann Eric Liechti sagt, die Führungsriege wolle keine offene Diskussion. Vorschläge, etwas zu ändern, würden abgeblockt. Es gelte:

Du bist mit uns oder gegen uns. Es kam mir je länger, je mehr vor wie eine Sekte.

Für Schultze stehe Loyalität an erster Stelle, «weit vor Sachverstand», kritisiert der Ex-Manager. 

Mehr noch: Schultze neige zu Wutausbrüchen. Einen Mitarbeiter, der einen Termin vergessen hatte, habe der Chef vor anderen angeschrien. All dies habe in der Teppichetage ein Klima der Angst geschaffen. Nicht ohne Grund. Wer aufmuckte, musste mit Konsequenzen rechnen. So hätten mehrere Depotleiter mit Zahlen aufgezeigt, dass die Rechnung nicht aufgehe. Liechti: «Es ging jeweils nicht lang, und sie waren ihren Posten los.»

Heute ist für ihn klar: «Diese Firma müsste man schliessen.» Mit DPD will er nichts mehr zu tun haben. Auch nicht privat. Wenn ein Päckli per DPD geliefert wird, verweigert er die Annahme. Gibt dem Fahrer die Unterschrift, die er braucht, und drückt ihm einen Fünfliber in die Hand. Dann rufe er die Firma an, bei der er bestellt habe:

Ich sage, ich wolle keine DPD-Pakete, sie sollen es bitte mit der Post schicken.

*Namen geändert

Das sagt DPD: «Alles falsch»

DPD weist alle Kritik weit von sich. Die von der Unia, von work und anderen Medien seit Jahren dokumentierten Missstände wie überlange Arbeitszeiten, überladene Lieferwagen oder Pakete weit über 25 Kilo seien «falsch bzw. betreffen Einzelfälle und Ausnahmen», so der Konzern in einer schriftlichen Stellungnahme. 

Auch die Entlassung von mehreren Depotleitern und das daraus resultierende Klima der Angst sei «falsch und widerspricht dem Feedback, das DPD von den Kadermitarbeitenden regelmässig einholt.» Die Zahlen, die Ex-Subunternehmer Djevit D. im «Kassensturz» vor laufender Kamera offenlegt, entsprächen «nicht der Wahrheit». Dasselbe schreibt DPD zu allen hier zitierten kritischen Aussagen der beiden Ex-Kadermitglieder, jedoch ohne die eigene Darstellung näher zu erläutern.


Nach der Kritik der Unia am Päcklidienst DPD DPD-Chef Schultze reagiert mit Panik und Versteckis

Erstmals schildert ein Insider, wie der Chef von DPD Schweiz auf die Enthüllungen der Unia reagierte. Und wo die Fahrerinnen und Fahrer eine deutliche Verbesserung erreicht haben.

Im Februar 2021 schlug die Unia Alarm: Beim Päcklidienst DPD herrschten skandalöse Zustände: nicht bezahlte Arbeitsstunden, überlange Arbeitstage oder illegale Lohnabzüge. Detailliert beschrieben im 35seitigen Report «Das System DPD», der auf Gesprächen mit mehr als 200 Fahrerinnen und Fahrern beruhte.

Jetzt schildert ein Insider erstmals, was dieser Report bei Tilmann Schultze auslöste, dem Chef von DPD Schweiz. Mit einem Wort: «Panik». Doch statt die Sache selber in die Hand zu nehmen, habe sich Schultze vom ersten Tag an vor der unangenehmen Aufgabe gedrückt. Der Ex-Kadermann, der Einblick in die oberste Führungsriege von DPD hatte, sagt zu work:

Er rief umgehend einen Mitarbeiter an und befahl ihm, dies zu regeln.

TILMANN SCHULTZE: Delegiert lieber, als selber zu handeln. (Foto: dpd)

In den darauffolgenden Tagen hätten alle Mitglieder der Geschäftsleitung den Auftrag bekommen, Argumente zu suchen, um die Kritik zu widerlegen. Denn etwas am kritisierten System zu ändern, das sei für Schultze nie in Frage gekommen.

Kritische Fragen? Nein danke!

Doch die Kritik verstummte nicht. Im Gegenteil. 100 Prominente, darunter der Komiker Peach Weber, forderten in einem offenen Brief Schultze zu «mehr Respekt» gegenüber den Mitarbeitenden auf. Im Juni wandten sich 187 Fahrerinnen und Fahrer mit einer Petition an ihren Chef. Im work berichteten auch Logistiker in den Depots von gefährlicher Arbeit und Schikanen. Und im September dieses Jahres stellte der «Kassensturz» von SRF die «unhaltbaren Arbeitsbedingungen» der Fahrerinnen und Fahrer an den Pranger – nicht zum ersten Mal.
SRF bot dem Unternehmen an, direkt im Studio zur Kritik Stellung zu nehmen. Doch nicht der Chef stand Red und Antwort, sondern einer seiner Untergebenen, der «Strategy & Innovation Director» Marc Frank. Der Insider berichtet: «Schulte weigerte sich, live die kritischen Fragen des Kassensturz zu beantworten.»

Der Druck hat gewirkt

Abtauchen und Abblocken: Das scheint Schultzes einzige Antwort auf Kritik am System DPD zu sein. Verhandlungen mit den Fahrerinnen und Fahrern, die sich zusammen mit der Unia für faire Bedingungen einsetzen, hat er bisher stets abgelehnt. Das heisst allerdings nicht, dass ihr Engagement gar nichts bewirkt hat. Roman Künzler, Branchenleiter Logistik bei der Unia:

Als wir 2021 anfingen, hatte DPD keinen einzigen Fahrer selber angestellt. Alles lief über Subunternehmen. Heute haben rund 200 einen Arbeitsvertrag direkt mit DPD.

Für gut einen Fünftel der Fahrerinnen und Fahrer übernimmt das Unternehmen somit auch formell die volle Verantwortung für die Arbeitsbedingungen. Und stellt damit auch das Geschäftsmodell des gesamten DPD-Konzerns in Frage, wie jetzt ein Insider berichtet: «Die Zentrale in Paris wollte partout nicht, dass wir Fahrer direkt anstellen. Ohne den Druck der Unia hätten wir das nicht gemacht – oder zumindest nicht so schnell.»

Trotzdem ist DPD noch weit entfernt davon, ein anständiger Arbeitgeber zu sein. Dafür mitverantwortlich seien auch die Schweizer Behörden, sagt Roman Künzler:

Obwohl wir seit über drei Jahren systematische Gesetzesverstösse dokumentiert haben, ist DPD kaum je ernsthaft kontrolliert worden.

Einzig in Bern führten die Behörden kurz vor Weihnachten 2023 eine Grosskontrolle bei DPD durch – und stellen fest: Fahrer mussten zum Teil bis 80 Stunden pro Woche arbeiten. 6 von 40 hatten zudem keine Arbeits- oder Aufenthaltsbewilligung.

Doch bisher tolerierten die meisten Aufsichts- und Kontrollbehörden das System DPD, so Künzler: «Für einen Rechtsstaat ist das beschämend.»

DPD liess die work-Anfrage für eine Stellungnahme unbeantwortet.

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