Nach dem McDonald’s beginnt das Leben
Einmal den Soli-­Burger, bitte!

Die Quartiers Nord von Marseille sind gebeutelt von sozialem Rassismus. Mittendrin haben sie einen McDonald’s besetzt, dann übernommen, jetzt heisst er «L’Après M». work hat sich im Soli-­Restaurant verköstigt.

SOZIALER FASTFOOD: Wer im l’Après M isst, bekommt nicht nur Qualitätsware, sondern tut damit auch etwas Gutes. (Foto: zvg / l’Après M)

Die ersten kommen schon morgens um fünf, um eine Notration Lebensmittel für ihre Familie zu holen. Achthundert Taschen stehen bereit. Der Monat geht dem Ende zu, das Haushaltsgeld auch, da ist der Andrang vor der blau-rosa gestrichenen Baracke besonders intensiv. Wir sind nicht in Gaza, Somalia oder Haiti. Sondern im ehemaligen McDo-nald’s im 14. Bezirk von Marseille, der zweitgrössten Stadt Frankreichs. Kamel Guemari hat 22 Jahre lang in diesem «McDo» gearbeitet. Der Gewerkschafter sagt:

Ich kann niemals akzeptieren, dass Kinder morgens mit leerem Magen in die Schule müssen. Das stiehlt ihnen jede Zukunft.

Und überhaupt, «Hunger im Jahr 2024 in einem der reichsten Länder ist ein unfassbarer Skandal». Dass die Not der Marseiller Nordquartiere der Vernachlässigung ihrer Bevölkerungen und dem sozialen Rassismus geschuldet sind, sagt er nicht. Nicht sein Stil.

FRÜHER US-MULTI, JETZT SOLIDARITÄT: Aus einem ehemaligen McDonald’s werden Lebensmittel an Hilfsbedürftige verteilt. (Foto: zvg / l’Après M)

Ihren McDo übernommen

Guemari (42), ein grosser Mann mit langem, schwarzem Bart, ist im Quartier geboren, die Mutter musste ihre fünf Kinder allein durchbringen. Mit 15 lebte er auf der Strasse, irgendwer verhalf ihm zum Job beim Burgerbrater. Für miserablen Lohn, aber er wurde satt. Guemari lernte lesen und schreiben, holte sich in zahllosen Gewerkschaftskämpfen die politische Bildung. Und in den «Assos», Associations, den Vereinen, die Marseilles Nordquartiere durch Selbsthilfe und Solidarität am Leben halten, gewann er die geschmeidige Eloquenz.

KAMEL GUEMARI: «Hunger im Jahr 2024 ist ein Skandal.» (Foto: zvg)

Anfang 2020, als sich die Covid-Massnahmen der Regierung bleiern über die Stadt legten, übernahmen Guemari und seine Kolleginnen kurzerhand ihren McDonald’s mit Hilfe eines Gewerkschaftsbündnisses. Denn Ausgangsverbot und Krise hatten die Parallelökonomie in den Quartieren zum Erliegen gebracht. Ärzte und Krankenhäuser meldeten epidemische Zahlen unterernährter Kinder (und Frauen).

Zündende Idee

Einige Monate zuvor hatte McDonald’s die Filiale Saint-Barthélemy zugemacht, um die wachsende gewerkschaftliche Organisation auszubremsen. Denn die Marseiller hatten mit Streiks und Besetzungen die Verdoppelung des Mindestlohnes, mehr Festanstellungen und etliche andere Fortschritte erzwungen. Zeitweise waren, ihrem Beispiel folgend, sämtliche 230 McDos im Süden Frankreichs besetzt. Für ihre Kämpfe hatten sich die Marseiller mit Gewerkschaften und Belegschaften bis in die USA verbündet. Der Plan der Aufständischen vom McDo Saint-Barthélemy war, den Betrieb wiederaufzunehmen, als «ersten sozialen Fastfood». Und daraus, Stein um Stein, eine Plattform für den Fortschritt zu bauen. Schwerpunkte:

Korrekte Arbeit, gesunde Ernährung für alle, Gleichstellung, ökologischer Umbau.

Es war eine Kampfansage an den US-Konzern. Freiwillige in grosser Zahl eilten herbei, Dutzende von Assos halfen, die ganze Stadt zu versorgen, Bauern schickten ihre Güter. In wenigen Tagen kam eine nie gesehene Lebensmittelverteilung in Gang. Der weltbekannte Drei-Sterne-Koch Gérald Passedat entwickelte eigens Burger-Rezepte. Tausende kauften sich für 25 Euro ­einen Anteilschein der Trägergesellschaft «La part du peuple» (meiner trägt die Nummer 434).

ANTEILSCHEIN 434: work-Autor Oliver Fahrni ist Teil der guten Sache in Marseille. (Foto: olf)

Ausführlich gefeiert wurde auch mit Gratiskonzerten prominenter Musiker, Karneval usw. Um eine polizeiliche Räumung zu verhindern, kaufte die neue rot-grüne Stadtregierung Grund und Gebäude.

Wo früher der Schriftzug des Fastfood-Weltkonzerns prangte, steht jetzt «L’Après M», was die Aktivistinnen und Aktivisten so übersetzen: Nach dem McDo beginnt das Leben. In grossen Lettern ist auf das Flachdach gepinselt: «Nous» – Wir.

Lecker, sehr lecker

Höchste Zeit, Sternekoch Passedats Spezialrezept zu verköstigen. Es heisst OVNI, französisch für UFO, und sieht auch so aus. Eine braun gebackene Teigtasche in zwei Varianten, Fisch oder Fleisch. Preis 6,20 Euro. Man kann auch mehr bezahlen, dann essen Mittellose gratis. Die Idee wäre, sagt Riad, der als «Direktor» firmiert, mit gutem Essen das Geld für die anderen Projekte zu generieren. Die meisten, die hier arbeiten, haben früher selber Nahrungsmittelhilfe bezogen. Nun können sie sich ausbilden in Gastronomie, Logistik, oder Betriebsführung.

An jenem Nachmittag sitzt nur wenig Kundschaft im «Après M». Inflation und die fortschreitende Verarmung der Nordquartiere drücken auf die Nachfrage, auch wenn ein simpler Bio-Burger um 2.20 zu haben ist. In einer Ecke gibt eine Lehrerin zwei Schülern Gratis-Nachhilfe. Guemari ist am Telefon mit den Kollegen einer besetzten Fabrik bei Florenz, mit Zürcher Aktivistinnen. Er strahlt Ruhe aus, umarmt neue Gäste, wirbelt aber für das «solidarische Dorf». Es muss in eine Gassenküche investiert werden. Lebensberatung und Rechtshilfe werkeln noch immer in einer provisorischen Baracke. Eine kleine Konservenfabrikation muss her… Und warum muss man der Stadt eigentlich Miete bezahlen? Das Projekt ist doch sozial nützlich. «Sandro, zieh die Schürze an!» Politik hat es noch nie geschätzt, wenn die Gesellschaft sich selbst hilft.

Und das UFO? Lecker, sehr lecker.

Informationen und Wege, dem Projekt zu helfen:
www.instagram.com/lapres.m
www.facebook.com/lapres.m

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