work-Kommentar
Fall Gisèle Pelicot: Entlarvend banal

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Es ist ein absolut abscheuliches Ver­brechen: Ein Mann, Dominique Pelicot, betäubt jahrelang seine Frau Gisèle und lässt sie von über 80 Männern vergewaltigen. Die Vergewaltigungen kommen 2020 ans Licht, weil Dominique Pelicot wegen heimlicher Aufnahmen unter den Röcken von Frauen in einem Supermarkt verhaftet wird. Bei der Durchsuchung seines Computers entdeckt die Polizei Tausende von Bildern und Videos, die die Vergewaltigungen an seiner Ehefrau dokumentieren. Er gesteht die Tat. 

Stark

Der Prozess gegen Dominique Pelicot und 51 weitere Männer im Alter von 26 bis 72 Jahren begann am 2. September 2024 und wird voraussichtlich bis Mitte Dezember dauern. Gisèle Pelicot bestand auf einen öffentlichen Prozess. Sie will, dass «die Scham die Seite wechselt». Das ist bemerkenswert und stark. In ganz Frankreich solidarisieren sich Frauen mit Pelicot, skandieren «Wir sind Gisèle». Das Land erlebt wohl gerade einen grund­legenden #MeeToo-Moment. Forderungen nach «Nur Ja heisst Ja» werden laut.

Grauenhaft

Das Ausmass der Taten ist abscheulich, die Beweislast aufgrund der Videos erdrückend. Der Fall scheint in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit aussergewöhnlich. Doch die beschuldigten Männer, die sind erschreckend banal. Im Fall Pelicot haben über 51 Angeklagte ausgesagt, der britische «Guardian» hat sämt­liche Aussagen zusammengetragen (Achtung: Übelkeitswarnung!). Diese Männer scheinen keine Schwerverbrecher, keine Monster. Es ist der Bauarbeiter von nebenan, ein Bäcker, ein Informatiker, ein Soldat, ein Pfleger. Auch wenn sie die Vergewaltigung zugeben – was trotz Videobeweisen längst nicht alle tun –, rechtfertigen sie sich mit grauenhaften Argumenten: sie hätten nicht bemerkt, dass die Frau bewusstlos sei, einer hielt sie sogar für tot. Juristinnen und Juristen nennen das chemische Unterwerfung. Was heisst das anderes, als dass der Mann die Frau zum Objekt macht. Was sie sagt und tut, geschweige denn was sie will, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Manche der Angeklagten sagten, sie hätten gedacht, weil der Ehemann sie eingeladen habe, habe die Frau ihr Einverständnis gegeben. Der Mann verfügt also über die Frau, besitzt sie mit Haut und Haar.

Düster

Die Aussagen der Angeklagten lassen tief blicken in eine düstere Realität unserer Zeit. Es ist der offensichtlich tiefverwurzelte Irrglaube an ein Macht­gefüge, an die Überlegenheit des Mannes über die Frau. Wir mögen noch so auf­geklärt sein, die Gleichstellung halbwegs in unseren Gesetzen verankert haben, Frauen in den meisten Berufsfeldern und Funktionen antreffen, doch im kollektiven Bewusstsein herrscht nicht selten noch Barbarei. Daher sind die Rechtfertigungen in ihrer Banalität entlarvend und sollten nicht verloren gehen unter der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen. 

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