Jean Ziegler ‒ la suisse existe
Es ist höchste Zeit, Herr Cassis!

Jean Ziegler

Jean Ziegler

Eine Katastrophe sucht die Welt heim: der Zusammenbruch der Vereinten Nationen. Dies produziert im kollektiven und individuellen Bewusstsein ein tiefes Trauma und ein Gefühl der moralischen Ohnmacht.

Die Lähmung der Uno ist besonders dramatisch für die Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen. Seit dem grausamen Überfall der Hamas vor über einem Jahr führt Israel einen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung. Mit Hilfe der USA bombardiert Israel Gaza. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu legitimiert diese ­Terrorbombardements mit einem einzigen Wort: «Rache». Es kommt sogar vor, dass sie zweimal kurz hintereinander dieselben Quartiere bombardieren. Und damit die Helfer töten, die nach den ersten Einschlägen nach Opfern suchen. Ein ­Beispiel: die mehrfache Bombardierung des Flüchtlingslagers Jabalia im November 2023.

Schutz

Am 29. Dezember 2023 klagte Süd­afrika gegen Israel. Wegen Missachtung der Uno-Konvention gegen Völkermord. Als sofortige Massnahmen verurteilte das oberste Uno-Gericht Israel dazu, den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung zu garantieren und die Nothilfe für die Zivilbevölkerung sicherzustellen. Israels Premier Benjamin Netanjahu lehnte diese ­provisorischen Sofortmassnahmen ab. Das oberste Uno-Gericht ist völlig machtlos.

Bereits kurz nach dem neu entfachten Krieg verlangte Uno-Generalsekretär António Guterrez den sofortigen Respekt des humanitären Völkerrechtes. Er verurteilte den Terror der Hamas, sagte aber auch, die Angriffe seien «nicht im luftleeren Raum erfolgt». Die Palästinenser würden seit 56 Jahren unter «erstickender Besatzung» leiden. Die Antwort des damaligen Aussen­ministers Eli Cohen: «Wir kämpfen gegen Tiere.» Und forderte den Rücktritt des Uno-Generalsekretärs. Doch Guterres blieb im Amt.

Spion

Inzwischen hat sich der Konflikt auf die ganze Region ausgeweitet. Guterres hat ein Ende der Gewalt im Nahen Osten gefordert. Die ­Entwicklung führe die Menschen in der Region geradewegs in den Abgrund. Daraufhin hat die israelische Regierung António Guterres zur ­Persona non grata erklärt, zur unerwünschten Person. Mit dieser Begründung werden im Völkerrecht Spione eines Landes verwiesen.

Schande

Jetzt hat das israelische Parlament entschieden, das Uno-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) aus Israel zu verbannen und den israelischen Behörden jeden Kontakt zur UNRWA zu verbieten. Das immerhin hat Aussenminister Ignazio Cassis kritisiert. Die Entscheidung ­widerspreche dem Völkerrecht und bedrohe die humanitäre Hilfe an die Bevölkerung in Gaza. Doch ansonsten weigert sich Cassis weiterhin, die israelische Tötungsmaschinerie zu verurteilen. Die Genfer Konvention und die zwei Zusatzprotokolle, die das humanitäre Völkerrecht begründen, verpflichten die Schweiz als Depositärstaat, bei der Verletzung des humanitären Völkerrechtes eine sofortige Konferenz für seine Wiederherstellung einzuberufen. Doch das tut Cassis nicht. Das ist eine Schande.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.