Zürcher Verwaltungsgericht verzögert Umsetzung von Volksentscheiden für Mindestlöhne
Rechte Richter schützen Hungerlöhne

Die Zürcherinnen und die Winterthurer haben mit überwältigenden Mehrheiten Ja gesagt zu Löhnen, die zum Leben reichen. Das passt den rechten Parteien und den Gewerbeverbänden nicht. In rechten Richtern haben sie jetzt Verbündete gefunden. Entscheiden wird wohl als nächstes das Bundesgericht.

VERBÜNDETER DER HUNGERLOHN-KOALITION: FDP-Mann Reto Häggi amtete als Vorsitzender beim Verfahren vor dem Verwaltungsgericht. (Montage: work)

Rund 17’000 Menschen arbeiten in der Stadt Zürich, ohne von ihrem 100-Prozent-Job leben zu können. Ein Unding, fanden fast 70 Prozent der Stimmenden und stimmten vor 18 Monaten einem städtischen Mindestlohn von 23.90 Franken pro Stunde zu.

Doch der Gewerbeverband unter Führung der Mitte-Nationalrätin Nicole Barandun akzeptierte den überaus klaren Volksentscheid nicht. Der Bezirksrat erteilte der Hungerlohn-Koalition eine Abfuhr, doch Barandun & Co. zogen das Verfahren weiter. Im Verwaltungsgericht trafen sie auf Verbündete. Die mehrheitlich bürgerlich besetzte Kammer erklärte städtische Mindestlöhne für ungesetzlich. Das Gericht unter dem Vorsitz des FDPlers Reto Häggi setze sich zusammen aus dem Barandun-Parteikollege Marco Donatsch, SVP-Richter Daniel Schweikert, Martin Bertschi (Grüne) und Verwaltungsrichterin Tamara Nüssle (SP).

IM KAMPF GEGEN DEM VOLKSWILLEN: Mitte-Nationalrätin Nicole Barandun. (Foto: Keystone)

Die Begründung des Gerichts verkürzt: Weil Mindestlöhne in den kantonalen Rechtstexten nicht explizit erwähnt würden, dürfe es auf städtischer Ebene auch keine geben. Während es zwar – laut Bundesgericht – sozialpolitisch motivierte kantonale Mindestlöhne geben darf, obwohl auch diese im hier höheren Bundesrecht nicht ausdrücklich erwähnt sind. Da staunen nicht nur Laiinnen und Laien, das sah auch eine Minderheit des Gerichtes so. Sie begründet ihre Sicht der Dinge in einem ausführlichen Anhang zum Urteil. Das Urteil zu dem ebenfalls von Gewerblern angefochtenen Winterthurer Volksentscheid steht noch aus.

Möglichst lange Hungerlöhne

Die Taktik, mit juristischen Schachzügen vom Volk beschlossene Mindestlöhne möglichst lang zu verzögern, ist bei den Arbeitgebern beliebt. 2011 beschloss das Neuenburger Stimmvolk den ersten kantonalen Mindestlohn. Mit den unterschiedlichsten rechtlichen Manövern gelang es den Arbeitgeberverbänden, dessen Umsetzung sechs Jahre lang zu verzögern. Bis schliesslich das Bundesgericht entschied: Kantonale Mindestlöhne sind rechtens.

Doch Arbeitgeber-Ideologen wollen keine Mindestlöhne. Nicht in Gesamtarbeitsverträgen, nicht in der Bundesverfassung, nicht in Kantonsverfassungen, nicht in Städten. Geht es um nationale Mindestlöhne, sehen sie den Föderalismus verletzt. Geht’s um kantonale Mindestlöhne, sehen sie die Kantone gegenüber Nachbarkantonen benachteiligt. Und geht es um städtische Mindestlöhne, sehen sie die Städte gegenüber den Agglomerationsgemeinden benachteiligt. Und sagt das Volk Ja, prozessieren sie gerne während Jahren gegen den Volksentscheid. Einziges Ziel:

Möglichst lange Dumpinglöhne bezahlen zu können, die nicht zum Leben reichen und Menschen trotz 100-Prozent-Jobs aufs Sozialamt zwingen.

Vor Bundesgericht

Björn Resener ist Sprecher des «Ein Lohn zum Leben»-Komitees. Er sagt: «Das Urteil des Verwaltungsgerichts widerspricht diametral dem Rechtsgutachten, das wir vor der Lancierung der Initiative in Auftrag gegeben hatten und auch dem Rechtsgutachten, dass die Städte Winterthur und Zürich in Auftrag gaben.»

Die Unia Region Zürich-Schaffhausen hat sich für die Mindestlohn-Initiativen in Zürich und Winterthur massiv engagiert. Doch im juristischen Verfahren ist sie nicht Partei. Ihr Co-Leiter Serge Gnos sagt dazu:

Seit dem Volks-Ja sind die beiden Städte verantwortlich für die Einführung von Mindestlöhnen. Es liegt jetzt an ihnen, das Urteil an das Bundesgericht weiterzuziehen. Und das erwarten wir auch!

Unia-Mann Serge Gnos. (Foto: zvg)

Gleich sieht es die Spitze der städtischen SP. Ihr Präsident Oliver Heimgartner: «Wir werden diesen Entscheid so nicht stehen lassen und dafür sorgen, dass die Stadt ihn nach Lausanne ans Bundesgericht weiterzieht.»

Trotz alledem: Es geht voran

Seit 25 Jahren führen die Gewerkschaften eine Mindestlohn-Kampagne. Und konnten dabei einiges bewegen – in den Betrieben, in den Branchen und in der Politik. Doch trotz vielen Erfolgen sind tiefe und tiefste Löhne in der Schweiz immer noch ein drängendes Problem. Sechs Prozent aller Lohnabhängigen verdienen immer noch weniger als 4000 Franken im Monat für einen Vollzeitjob. Bei den Frauen sind es gar neun Prozent. Und es sind längst nicht nur serbelnde Kleinbetriebe, die solche gschämigen Löhne bezahlen, sondern zum Beispiel auch ­Luxushotelketten und Modekonzerne, die ihre Besitzerinnen und Besitzer zu Multimillionären machen.

KÄMPFEN WEITER FÜR LÖHNE ZUM LEBEN: Die Gewerkschaften am 1. Mai in Zürich. (Foto: sgb)

Dieses Jahr haben die Gewerkschaften ihre Zielsetzungen für die kommenden Jahre aktualisiert: Keine Löhne unter 4500 Franken und mindestens 5000 Franken für Menschen mit Lehrabschluss. Der gewerkschaftliche Kampf für Löhne, die zum Leben reichen, geht weiter. In den Betrieben, in den Branchen und in der Politik. 

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