Zum Tod des Arbeiterfilmemachers Alvaro Bizzarri (1934 – 2024)
Er gab den Saisonniers eine Stimme

Alvaro Bizzarri brachte ­schonungslos die Kehrseite des Saisonnierstatuts auf die ­Leinwand. Jetzt ist er verstummt. Für Filmemacher Samir war er Vorbild und Inspiration. Für ­seinen eigenen Film hat Samir ihn ­regelmässig in Italien besucht, wo er bis zuletzt die Baustelle vor seiner Wohnung filmte. Eine ­Würdigung.

REICH AN ANEKDOTEN: Alvaro Bizzarri im neusten Film von Samir. (Foto: Dschoint-Ventschr-Filmproduktion)

Anfang der siebziger Jahre, ich war 16 Jahre alt, ging ich in ein provisorisch eingerichtetes Kino im Hinterzimmer eines Restaurants. Es lief der Film Lo Stagionale. In diesem Schwarzweissfilm des italienischen Arbeiterfilmemachers Alvaro Bizzarri aus Biel spielten migrantische Arbeiter ihre eigene Geschichte. Ich war begeistert.

Die meisten italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die ich kannte, waren in den Colonie libere organisiert, die sich um die Alltagsprobleme der italienischen Migration kümmerte. Daneben gab es aber auch kulturelle Veranstaltungen wie zum Beispiel einen Filmclub, der Alvaros Filme zeigte.

Filme sind Politik

Samir. (Foto: Keystone)

Lo Stagionale wurde in der ganzen Schweiz gezeigt, und die Emotionen gingen hoch. Dieser Film war für mich der Beweis, dass Filmemachen auch ein politischer Prozess ist. Ich war damals Schriftsetzerlehrling, und in meiner Freizeit engagierte ich mich in der Druckereigewerkschaft. Aber mein heimlicher Traum war schon damals, Filmemacher zu werden. Es schien mir aber unmöglich. Erstens, weil es keine Filmschulen gab in der Schweiz, und zweitens hatte ich mit einem irakischen Pass keine Chance, im Ausland zu studieren. Und nun sass ich in einem verrauchten Saal mit Dutzenden von Arbeiterinnen und Arbeitern und schaute den Film, den Alvaro mit Hilfe einer Amateurkamera auf ­Super 8 gedreht hatte. Ich war beeindruckt. Ein einfacher Werktätiger hatte es geschafft, ohne finan­zielle Mittel und dank der Unterstützung der italienischen Migrantenorganisationen einen Spielfilm zu drehen und unter die Leute zu bringen. Von da an wusste ich, es gibt keine Ausrede mehr, warum ich nicht Filmemacher werden könnte.

Im Film Lo Stagionale geht es um den italienischen Saisonnier Giuseppe, der als Maurer in der Schweiz arbeitet. Als seine Frau in Italien stirbt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seinen sechsjährigen Sohn zu sich zu holen. Doch dies ist verboten. Kinder von Saisonniers hatten kein Recht auf Aufenthalt. So muss sich der Bub in der Wohnung verstecken und lebt mit der ständigen Angst, entdeckt zu werden und die Schweiz verlassen zu müssen.

Kehrseite der Medaille

In den darauffolgenden Jahren verpasste ich keinen seiner Filme. 1974 kam sein nächster Dokumentarfilm: Rovescio della medaglia (Die Kehrseite der Medaille). Darin zeigte er eindrücklich das elende Leben der migrantischen Bauarbeiter, er filmte sie in ihren windigen Bretterverschlägen auf dem Bührer-Areal in Biel. Er gab ihnen eine Stimme. Diese Baracken gibt es heute noch, Denkmal eines unrühmlichen Stückes Schweizer Geschichte (work berichtete).

1977 sah ich seinen Film Pagine di vita dell’emigrazione (Eine Seite des Migrantenlebens) am Filmfestival von Locarno. Und später eine Wiederaufführung seines ersten Filmes von 1970, Il Treno del Sud (Der Zug in den Süden), in dem er linke italienische Aktivisten in einem Zug voller roter Fahnen zu den Wahlen nach Italien begleitet. Sie er­zählen im Film von ihren Hoffnungen und ihrem Einsatz für eine bessere Welt. Auch da gab er diesen Menschen eine Stimme.

Moderne Kamera

In den Recherchen für meinem Film über die Geschichte der italienischen Migration in den 1960er und 1970er Jahren, La prodigiosa trasformazione della classe operaia in stranieri (Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer, work berichtete), besuchte ich Alvaro in seiner Wohnung bei Florenz, wo er seit 30 Jahren mit seiner Frau Kathy lebte, einer Schweizerin. Auch wenn er körperlich nicht mehr so fit war, empfing er mich in seinem Arbeitszimmer mit den neusten Kameras und einem modernen digitalen Schnittplatz. Er filmte aus seinem Fenster die Arbeiter auf der Baustelle auf der anderen Strassenseite. Alvaro war von ausgesuchter Höflichkeit und erzählte unzählige Anekdoten aus seinem Filmerleben. So zum Beispiel vom Filmfestival in Moskau. Dort lud ihn der Schweizer Botschafter zum Essen ein, was Alvaro sehr amüsierte. Denn seinen Film hatte er ja ohne Unterstützung der Eidgenossenschaft produziert. Noch mehr erstaunt war der Botschafter, als er erfuhr, dass Alvaro gar keinen Schweizer Pass besass, sondern als Italiener die Schweiz am Festival vertrat.

In meinem Film erzählt er, wie ein künstlerisches Werk die politische Geschichte beeinflussen kann: Für das Ende von Lo Stagionale drehte er eine kleine Demo mit seinen Freundinnen und Freunden in Biel. Einige Leute tragen in dieser Szene Transparente. Darauf steht: Es ist ein Menschenrecht, dass jedes Kind mit seinen Eltern aufwachsen darf. Der Film wühlte die Menschen so auf, dass die italienischen Migrantenorganisationen eine grosse Demonstration in Bern organisierten. Es war die erste grosse Demonstration für die Rechte der Saison­niers und ihrer Familien. Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter aus der ganzen Schweiz nahmen teil. Alvaro filmte diese Demo und schnitt die Bilder danach als kraftvollen Abschluss in seinen Film ein.

Alvaros Filme wurden inzwischen von der Cinémathèque restauriert, und die Soziologin Morena La Barba kümmert sich um seinen Nachlass und hat ein Buch über sein Leben geschrieben. Ich hoffe, dass an den Filmschulen sein Leben und seine Filme als Vorbild für die junge Generation erhalten bleiben.

* Samir ist 1955 in Bagdad, Irak, geboren. 1961 kam er in die Schweiz. Er absolvierte eine Lehre als Typograph, engagierte sich gewerkschaftlich, arbeitete als Kameramann und begann dann, seine eigenen Filme zu realisieren. Unter seiner Regie entstanden eine Vielzahl von Serien und Fernsehfilmen. Seine neuste Doku ist «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer».

Sein Leben, seine Werke

Am 5. Dezember 2024 verstarb der Filmemacher Alvaro Bizzarri im Alter von 90 Jahren. Er kam als mi­grantischer Arbeiter Mitte der 1950er Jahre nach Biel, wo er zuerst als Schweisser arbeitete. Fasziniert vom Film, begann er Mitte der 1960er Jahre, sich selbst das Filmemachen beizubringen.

Ausgezeichnet

In seinen Dokumentationen und Spielfilmen thematisierte Bizzarri oft das Leben von Migranten und Arbeiterfamilien. Seine Filme, die eine Brücke zwischen Italien und der Schweiz schlagen, sind ein bedeutendes Zeugnis seiner sozialen und politischen Sensibilität. Er wurde für zahlreiche Werke auf internationalen Filmfestivals ausgezeichnet und hinterlässt ein beeindruckendes filmisches Vermächtnis, das viele Filmemacher inspiriert hat.

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