Historikerin Claudia Aufdermauer (40) über die vergiftete Industrienation Schweiz
Für die Sünden von damals müssen wir heute blechen!

Bis in die 1980er ­Jahre ­waren weite Teile der Schweiz ­vergiftet. Jetzt beleuchtet erstmals eine ­Historikerin diese Schattenseite der Industrialisierung. Ein Gespräch mit Claudia Aufdermauer über ­Basler ­Lachse, Berner Hungertote und Glarner Fabrikkinder.

Schattenseite: Das neue Buch der Historikerin Claudia Aufdermauer deckt auf, wie die Industrialisierung die Schweiz verschmutzte. (Foto: Firmenarchiv Novartis)

work: Frau Aufdermauer, Sie haben eine «andere Geschichte» der Industrialisierung geschrieben und sprechen von der «vergifteten Schweiz». War die Lage um 1900 wirklich so dramatisch?
Claudia Aufdermauer: Der Untertitel meines Buches heisst «Eine andere Geschichte der Indus­tria­lisierung», weil ich eine neue Perspektive ­gewählt habe. Bisher hat die Geschichtswissenschaft vor allem danach gefragt, wie die Rohstoffe in die Fabriken kamen und wie sie diese als Produkte wieder verliessen. Und generell wird die Geschichte der Industrialisierung immer noch häufig entlang von Pionieren und ihren ­Unternehmen erzählt. Mein Zugang hingegen ist der Weg des Giftes. Giftige Stoffe verschwinden ja nicht einfach in der Produktion. Als Abfall­produkte landen sie in der Luft, im Wasser oder im Boden. Ich habe also geschaut, welche giftigen Stoffe im 19. und 20. Jahrhundert in die Fabriken kamen, was dort mit den Arbeiterinnen und Arbeitern passierte und wie diese Stoffe wieder hinausgelangten.

Mit welcher Erkenntnis?
Eine Konstante scheint, dass man im nachhinein immer gescheiter ist. Die Gefährlichkeit eines Stoffes wurde meist erst im Verlauf der Jahre festgestellt. Grundsätzlich konnte ich aber nachzeichnen, dass die zeitgenössischen Akteure sich zum Teil sehr intensiv mit den Wirkungen von giftigen Stoffen auseinandersetzten. Es wurde experimentiert, dokumentiert und nach Problemlösungen gesucht, aber auch vertuscht und getrickst.

Wer hat verheimlicht und getrickst?
Zum Beispiel die damalige Ciba in Basel. Wie die meisten Fabriken leitete auch sie ihre Abfallprodukte einfach in den nächsten Fluss. 1904 drohten sechs Berufsfischer mit einer Klage, da ihre wirtschaftliche Grundlage durch die Rheinvergiftung ruiniert werde. Die Ciba schloss darauf mit den Fischern einen Geheimvertrag ab. Sie zahlte ihnen 305 Franken an den jährlichen Pachtzins und bekam die Garantie, dass nicht weiter gegen sie vorgegangen werde und alles geheim bleibe.

Klingt nach einem guten Deal für Ciba!
Ja, zumal später auch Konkurrenten wie die Sandoz, J. R. Geigy und weitere Unternehmen ins Abkommen einstiegen. Die Geheimzahlungen dauerten übrigens bis 1951 an und endeten nur, weil der letzte Fischer verstorben war.

Die Fischer schaufelten ihr eigenes Grab?
Bis zu einem gewissen Grad schon. Bei solchen Nutzungskonflikten bevorzugten allerdings auch die Behörden immer klar jene Branche, die die höhere Wertschöpfung generierte. Gegen die ­Farben- und Chemieindustrie und die damit zu­sammenhängende Textilindustrie kamen die paar Fischer nicht an.

Apropos Fisch: Ich wusste gar nicht, dass im Rhein bei Basel einst Lachse lebten!
Bis in die 1920er Jahre waren Lachsfänge im Rhein noch häufig. Nach dem Bau der Kraftwerke Augst-Wyhlen 1912 und Kembs 1932 wurden sie immer seltener. Und spätestens nach dem 1. November 1986 verschwanden sie ganz.

Wegen der Katastrophe von Schweizerhalle?
Genau, damals gerieten dort in einer Lagerhalle von Sandoz 1350 Tonnen Chemikalien in Brand. Das Feuer konnte zwar bekämpft werden, doch das Löschwasser wurde nirgends eingefangen. Damit flossen Unmengen an Insektiziden und quecksilberhaltigen Fungiziden in den Rhein. Die Folge war ein massives Fischsterben bis in die Gegend um Karlsruhe.

Hat man aus «Schweizerhalle» gelernt?
Durchaus. Erst mit dieser Katastrophe überlegte man sich detaillierte Notfallkonzepte. Der Bundesrat versprach, der sogenannten Technologiefolgen-Abschätzung künftig mehr Beachtung zu schenken, und erarbeitete eine Verordnung zum Schutz vor «Störfällen», wie Katastrophen nun ­genannt wurden. Wohin mit dem hochgiftigen Brandschutt war aber lange unklar. Letztlich wurde er in der Sondermülldeponie im bernischen Teuftal eingelagert. Seit Inkrafttreten der Altlastenverordnung 1998 wird bei der Sanierung von Altlasten systematisch vorgegangen. Es gibt ein nationales Kataster der belasteten Standorte. Bei der Sanierung gilt das Verursacherprinzip.

Zahlen müssen also die verantwortlichen Firmen. Funktioniert das auch?
Verursacherprinzip tönt zwar schön. Aber bei ­vielen Altlasten existieren die verantwortlichen Firmen nicht mehr und können nicht belangt ­werden. Die Folgen des Laisser-faire-Prinzips des 19. Jahrhunderts trägt heute oft die Allgemeinheit.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
In Pratteln muss man bis 2032 90 000 Kubik­meter Boden ausheben. Das Erdreich ist mit Arsen aus der ehemaligen Anilinfarbenfabrik Petersen verseucht. Weil diese im Kanton Basel-Land stand, durfte sie mit dem Gift noch bis 1908 produzieren. Basel-Stadt dagegen verbot den Arseneinsatz schon 1872. Die unternehmerische Freiheit von damals kommt Basel-Land und den Bund heute sehr teuer zu stehen. Die Sanierungskosten werden auf 180 Millionen Franken geschätzt.

Zurück zu den Tricksern: Wo haben die frühen Industriellen noch geschummelt?
In den Quellen fand ich viele Hinweise auf Verschleierungstaktiken. Etwa im Berner Oberland, wo ab den 1840er Jahren das Zentrum der Zündholzproduktion lag. Zum Einsatz kam gelber Phosphor. Vielen Arbeiterinnen und Arbeitern faulten davon Zähne und Oberkiefer ab, etliche starben. 1879 verhängte der Bund ein Verbot von Gelb-Phosphor-Zündhölzchen. Doch die Produktion ging weiter – nachts in Privatwohnungen. 1882 hob der Nationalrat das Verbot wieder auf. Denn die Zündholzfabrikanten hatten argumentiert, dass mit dem Verbot Hunger und Elend über die Region hereinbreche. Das war nicht frei erfunden. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in armen Tälern der Schweiz zahlreiche Hungertote.

Sie haben auch Beispiele von Fake-News gefunden …
… zum Beispiel bei den Basler Farbenfabrikanten. Diese behaupteten, sie würden ihre arsenikhaltigen Abwässer nicht in den Rhein leiten und seien für Fischsterben nicht verantwortlich. 1872 gestanden sie, dass sie es doch taten. Gewisse Färber verbreiteten danach die Legende, wonach kleine Mengen Arsenik sogar gesund seien und ein gutes Aussehen verliehen. Tatsächlich ist schon eine Dosis von 60 bis 170 Milligramm tödlich.

Wie ging die Arbeiterschaft mit den ­giftigen Gefahren in den Betrieben um?
Ein besonders spannendes Dokument, das ich gefunden habe, war eine Eingabe von vier Textil­arbeitern an die Glarner Landsgemeinde aus dem Jahr 1863. Sie verwiesen auf die schädlichen Ausdünstungen in den Druckstuben, gerade auch für Kinder. Und sie forderten Ventilationsvorschriften, ein Fabrikinspektorat und eine staatliche Beschränkung der Arbeitszeit auf 11 Stunden. Wenig später konnten sich die vier Arbeiter an der Landsgemeinde weitgehend durchsetzen. Zudem wurde Kinder- und Nachtarbeit verboten und ein sechswöchiger Mutterschaftsschutz eingeführt. Ein solcher Eingriff in die «freie Wirtschaft» war damals einmalig in der Schweiz!

Und wie reagierten die Textilfabrikanten?
Sie schlossen sich kurz darauf zum Technischen Verein Glarus zusammen. Vordergründig war das ein Leseverein zur Diskussion der neusten Techniken. Aber eigentlich ging es darum, neue Einschränkungen zu verhindern.

Vor Ihnen haben sich erst wenige Historikerinnen an diese Kehrseite der Schweizer Industrie herangewagt. Warum?
Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht liegt es einfach daran, dass der Begriff der «Umwelt» erst in den 1970er Jahren mit den entsprechenden Bewegungen aufkam. Aber die Geschichtswissenschaft hatte bisher auch ein verzerrtes Bild der frühen Naturschutzbewegungen.

Inwiefern?
Man ging davon aus, dass die um 1900 gebildeten Naturschutzgruppen primär von romantischen, patriotischen und ästhetischen Motiven geleitet waren. Doch am Beispiel des sogenannten Kriegs gegen die Zellulose- und Papierfabrik Balsthal konnte ich zeigen, dass manchmal auch konkrete Gefahren ausschlaggebend waren. In den Gemeinden formierte sich ab 1894 eine breite Protestbewegung gegen die industrielle Verschmutzung des Flusses Dünnern. Und da ging es um handfeste Interessen, nicht um Romantik. Es war die erste Schweizer Umweltbewegung avant la lettre.

Hat sich die «vergiftete Schweiz» in eine «vergiftende» gewandelt?
Diese Frage stellt sich tatsächlich. Denn nicht nur die Produktion mit giftigen Stoffen, etwa die Textilindustrie, hat man ins Ausland verlagert. Auch den Grossteil unseres Giftmülls exportieren wir. Aber es gibt auch neue, noch zu wenig erforschte Gefahren – etwa jene der sogenannten Ewigkeitschemikalien PFAS. Und man darf nicht vergessen: Schadstoffe halten sich nicht an Landesgrenzen.

Claudia Aufdermauer (40) ist ­freischaffende Historikerin in Aarau. Ihren Doktortitel erlangte sie mit einer Studie über die «Bundesbarone» des 19. Jahrhunderts und deren Einfluss auf die Schweizer Aussenpolitik. Für die Alfred-Escher-Stiftung war sie lange als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Publiziert hat sie unter anderem zur Geschichte des Strassenbaus, der Frauenrechte oder der Lebensrealitäten der ersten Fabrikarbeiter.

«Vergiftete Schweiz – Eine andere Geschichte der Industrialisierung» ist im November im ­Zürcher Verlag Hier und Jetzt erschienen. Das schöne Buch ist 250 Seiten kurz, enthält 70 Bilder und kostet 44 Franken. (jok)

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