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Miguel Vieira (53): Vom Fischerbueb zum Skilehrer

Erst hatte er vom Skifahren keine Ahnung. Doch nach einem Tag auf der Piste wollte Miguel Vieira gar nicht mehr aufhören. Heute hat er sein Hobby zum Beruf gemacht – zumindest im Winter.

MIGUEL VIEIRA (53): Vom Fischerbub zum Skilehrer. (Foto: Matthias Luggen)

Was sind das für Dinger, die die Leute auf der Schulter tragen? Der junge Miguel Vieira, frisch in Zermatt VS angekommen, hat noch nie im Leben Ski gesehen. Wie auch? Er ist am Meer aufgewachsen, an der portugiesischen Küste. Seine Eltern sind zuerst Fischer, später führen sie ein Restaurant. Mit 18 Jahren will Vieira die Welt sehen. Schwester und Bruder arbeiten bereits in Zermatt, er reist ihnen nach und beginnt in einem Hotel als Tellerwäscher.

Der Bruder erklärt ihm, was Skifahren ist. «Willst du mal probieren?» Klar will Miguel. Und wird den Tag nie vergessen. «Schon vom ersten Moment an war ich begeistert», sagt er zu work. Obwohl das Erlebnis 35 Jahre zurückliegt, strahlt er übers ganze Gesicht. Die Berge, die Freiheit, die Geschwindigkeit – beim Skifahren stimme einfach alles. «Schau die Leute an, die am Fahren sind – die haben immer ein grosses Lachen im Gesicht.» Sogar an die Nacht nach dem ersten Tag erinnert er sich. «Ich konnte kaum einschlafen. Ständig habe ich mir vorgestellt, wie ich auf Ski den Hang runtersause.» Von da an sei er jede freie Minute auf der Piste gewesen.

Sprachtalent

Er wechselt mehrmals die Stelle, zieht in Europa umher, arbeitet auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik. Heute spricht er sechs Sprachen. Doch immer wieder kehrt er nach Zermatt zurück. Und fährt Ski. Immer besser. So mit 30, sagt er, habe er gemerkt: Er will nicht sein Leben lang nur Kellner sein.

Da dachte ich, Kellner im Sommer, Skilehrer im Winter – ich probier mal, ob das geht.

Es geht. Seit zehn Jahren ist er brevetierter Skilehrer an der Zermatter Skischule Prato Borni. Kurz vor Weihnachten beginnt die Saison, kurz vor Ostern ist Schluss. Den Rest des Jahres arbeitet Vieira als Kellner im Restaurant Old Zermatt. Dass er seinen Plan umsetzen konnte, sei «ein Traum», sagt er. So kann er täglich auf die Piste und wird erst noch dafür bezahlt.

Die Schule gibt nur Privatunterricht, für eine bis maximal vier Personen. Mittlerweile hat Vieira Stammgäste: «Viele Familien kommen fast jeden Winter, dann wollen sie mit mir fahren.» Der Kontakt mit den Menschen sei es auch, was ihm am Beruf am besten gefalle:

Alle, ob Kinder oder Erwachsene, freuen sich. Weil sie etwas erleben, was sie den Rest des Jahres nicht können. Diese Freude zu sehen – was willst du mehr?

Knapp

Um seinen Traum zu leben, nimmt er auch ein tieferes Einkommen in Kauf. Zwar liegt sein Stundenlohn, Ferien- und Feiertagsentschädigung eingerechnet, bei 38 Franken. Aber an vielen Tagen unterrichtet er nur zwei bis vier Stunden. Er rechnet vor: «Wenn ich in einem Monat hundert Stunden mache, gibt das 3800 Franken brutto. Das reicht gerade noch. Bei weniger wird es knapp. Und die Rechnungen kommen das ganze Jahr!»

Damit das Familienbudget im Gleichgewicht bleibt, kellnert er auch im Winter weiter, an drei bis vier Abenden pro Woche. Auf die Frage, ob es nicht stressig sei, die beiden Berufe und das Familienleben unter einen Hut zu bringen, lacht Vieira und sagt: «Überhaupt nicht. Stress wäre ein Winter ohne Skifahren!»

Chef

Was ihm allerdings zu denken gibt: Wie ihn die Menschen unterschiedlich behandeln, abhängig vom Beruf, den er gerade ausübt. «Im Service sind wir nur die, die den Teller bringen. Aus Sicht der Gäste sind wir keine Menschen.» Ganz anders als Skilehrer:

Wenn ich in der Jacke vor den Gästen stehe, dann hören sie mir zu. Sie schauen mir in die Augen und nehmen sich Zeit. Auf der Piste bin ich der Chef.

Zermatt habe sich enorm verändert, seit er 1989 hier angekommen sei, sagt er: «Damals gab es hier im Dorf viele Bäume und Grünflächen. Heute ist alles verbaut.» Auch die Arbeit im Service sei anstrengender geworden, weil der Strom der Gäste, vor allem aus asiatischen Ländern, immer grösser werde und nie nachlasse: «Das ganze Jahr ist Rambazamba. Es gibt keine Zwischensaison mehr.»

Gelitten habe auch die Qualität des Erlebnisses, findet er. Bei vielen Reisegruppen müsse es schnell gehen, sie könnten nicht einmal ihr Essen geniessen: «Sie reisen von Paris an und essen hier eine Pizza. Schnell ein Foto, schon müssen sie wieder auf den Zug und weiter nach Florenz.» Vieira schüttelt den Kopf und sagt: «Nur damit sie sagen können: Ich war in Zermatt.»

Glück

Für Menschen wie ihn, die hier arbeiteten, komme dazu: «Du findest hier sehr leicht einen Job. Aber fast nie eine bezahlbare Wohnung.» Viele wohnten ausserhalb und pendelten per Zug ins autofreie Zermatt. Er auch? Vieira grinst und verneint. In der Zeit, als er und seine Partnerin sich entschieden zusammenzuziehen, habe er beim Einkaufen eine Frau gesehen, die eins dieser Kleininserate aufhängte: «Wohnung zu vermieten, stand darauf. Ich habe die Karte genommen und gleich angerufen, so habe ich die Wohnung bekommen.» Er ist sicher: Hätte er das Inserat nur zehn Minuten später gesehen, wäre die günstige Wohnung schon weg gewesen. «Ich hatte einfach Glück. Einmal mehr.»


Miguel VieiraFamilie und Sport

Jeden Morgen weckt Miguel Vieira seine achtjährige Tochter, isst mit ihr Frühstück und schickt sie in die Schule. Wenn er nicht arbeitet, kommt sie am Mittag nach Hause, sonst isst sie am Mittagstisch der Schule. Am Nachmittag übernimmt Vieiras Partnerin die Betreuung. Auch sie arbeitet im Gastgewerbe: Als Frühstückschefin in einem Zermatter Hotel muss sie morgens früh raus, dafür hat sie um 15 Uhr Feierabend.

Aktiv

In der Freizeit fährt Vieira gern Velo, geht joggen oder mit der Tochter Schlittschuh laufen. «Wir müssen immer etwas machen», sagt er. «Nur arbeiten und zu Hause sitzen, das passt uns nicht.»

Sein Monatslohn als Kellner beträgt 5300 Franken brutto, davon sind 275 Franken Kinderzulage. Seit mehr als zehn Jahren ist er Unia-Mitglied. «Weil wir zusammen stärker sind als jeder für sich. Und weil mir hier jemand Auskunft gibt, was rechtens ist und was nicht.»

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