10 Frauen, 10 haarsträubende Vorfälle: Sexuelle Belästigung in Pflegeberufen
«Wir werden angefasst und heimlich fotografiert»

Fast jede Person, die in der Pflege ­arbeitet, erlebt sexuelle Belästigung am ­Arbeitsplatz. Zehn Frauen berichten über i­hre Erlebnisse.

Eine 2023 erschienene Studie der Hochschule ZHAW zeigte erschreckende Zahlen: Über 96 Prozent der Pflegenden haben am Arbeitsplatz ­sexuelle Belästigung erlebt. Um den Pflegenden direkt eine Stimme zu geben, startete work ­einen Aufruf. In kürzester Zeit meldeten sich unzählige Pflegende, die bereit waren, ­anonym ihre Geschichten zu teilen. Doch es gab auch Gegenwind: Männliche User versuchten das Thema herunterzuspielen, etwa mit Kommentaren wie: «Wenn Komplimente sexuelle Belästigung sind, dann stimmt die Studie wohl.» ­Solche Reaktionen zeigen, wie wichtig es ist, den Pflegenden Gehör zu verschaffen. Ihre ­Geschichten sprechen von Übergriffen, die niemand hinnehmen sollte.


Simona Dubois *

«Seit zehn Jahren arbeite ich in der Pflege und habe schon x-mal erlebt, dass Männer während der Intimpflege Bemerkungen wie ‹Oh, das tut gut›, ‹Oh, können Sie fester reiben?› machten. Erst vor kurzem kam es zu einer Situation im Spital, wo ein Mann – er war klar im Kopf – uns Pflegenden immer wieder nachpfiff, uns Luftküsse zuschickte und an meinem Pferdeschwanz zog, mit dem Kommentar: «Sie haben tolle Haare.» Das fand ich eklig. Von Männern mit einer Demenzerkrankung wurde ich am Hintern oder an den Brüsten angefasst. Dort kann ich die Situation einordnen, da ich weiss, es ist die Krankheit. Mich nervt, dass sexuelle Belästigung in der Pflege so herunter­gespielt wird. Die Gesellschaft hat teilweise so ein falsches Bild von ‹Krankenschwestern›. Die Tatsache, dass der Beruf an der Fasnacht oder an Halloween sexualisiert dargestellt wird, macht die Situation nicht besser.»


Nina Blum *

«Während der Ausbildung haben wir das Thema sexuelle Beläs­tigung nicht behandelt. Es wurde nur erwähnt, dass es vorkommen kann, dass ein Mann bei der Intimpflege eine Erektion bekommt und wir als Pfle­gende dann bei solch einem Fall ein Tuch darüberlegen und uns nichts anmerken lassen sollten. Mit 17 Jahren forderte mich dann ein Patient auf, sein ‹Schnäbi› zu streicheln. Auf so eine Situation wurde ich nicht sensibi­lisiert.»


Lea Moser *

«In der Neurologie erlebe ich übergriffige Situa­tionen. Aufgrund von Hirn- und Nervenkrankheiten verhalten sich delirierte Patientinnen und Patienten manchmal unangemessen. Das kann von sexuellen Äusserungen bis hin zu schweren sexuellen Handgreiflichkeiten gehen. In der Ausbildung haben wir das Thema kaum behandelt.»


Chantal Shehu *

«Während meiner Ausbildung arbeitete ich in einem sehr kollegialen Team. An unseren Teamveranstaltungen wurde oft viel Alkohol konsumiert. An solch einem Anlass bemerkte ich die subtilen Berührungen eines Vorgesetzten an meinen Beinen. Im Verlauf des Abends häuften sich die Berührungen und wurden zu einer ganzen Hand an meiner Hüfte. Ich habe schnell gemerkt, dass ich mich nicht wohl fühle, wollte es aber nicht wahrhaben, dass ein Vor­gesetzter Grenzen überschreitet. Er berührte mich auch im Intimbereich. Tage später habe ich den Vorfall bei meiner Bildungsvorgesetzten gemeldet. Ich habe mich zutiefst geschämt. Der Vorgesetzte bekam Auflagen, arbeitete jedoch weiterhin normal weiter. Das ist sehr frustrierend.»


Jana Zaugg*

«Als ich im Praktikum war, hat mich mein Berufsbildner beim Einführungsgespräch bereits darauf vorbereitet, dass wenn es zu einer übergriffigen Situation kommen sollte, ich sofort «Sturmen» (Notfallknopf drücken) soll, damit der Patient direkt konfrontiert wird. Das ist ein positives Beispiel dafür, wie es eigentlich in der Ausbildung laufen sollte.»   


Tina Müller *

«Neulich bekam ich auf Linkedin eine Nachricht vom Bruder eines Patienten. Er konnte mich aufgrund meines Namensschilds auf meiner Arbeitskleidung in den sozialen Medien finden. Dort schrieb er mir, dass ich mich so gut um seinen Bruder gekümmert habe, und er wolle deshalb nachfragen, wann er an der Reihe sei.»


Elena Rossi *

«In meiner Ausbildung – ich war 15 Jahre alt – war die erste Person, die ich allein ohne Ausbildnerin duschen musste, ein Mann. Wir hatten an diesem Tag Personalmangel, und ich musste deshalb auf einem anderen Stockwerk einspringen. Ich kannte den Bewohner im Vorfeld nicht und wurde aufgrund des Zeitmangels auch nicht über ihn informiert. Als ich den Mann duschen wollte, fing er an, sich im Intimbereich zu berühren, und versuchte, mich anzufassen. Ich war noch sehr jung, erst seit kurzem in der Ausbildung und mit der Situation überfordert.»


Selina Loosli *

«Bei sexueller Belästigung denke ich an meine Zeit im Spital. Solche Grenzüberschreitungen erlebte ich besonders häufig von weissen Männern, vor allem in der Orthopädie. Diese Männer hatten keine Demenzdiagnose, keine Hirnschäden, sondern waren dort wegen ihres Knies oder ihrer Hüfte. Ich erinnere mich an die Situation, als ich einem Mann den Verband wechseln musste. Als ich mich kurz zum Verbandswagen drehen wollte, begrabschte er meinen Hintern. Diese Männer nutzen ihre Krankheitssitua­tion als Entschuldigung dafür aus, dass sie sich übergriffig verhalten können. Sie sehen Pflegefachfrauen als ‹sexy Krankenschwestern›. Das macht mich hässig. Doch das ist unsere Realität. Pflegefachfrauen werden von Männern belästigt, angefasst und heimlich foto­grafiert – auch das ist mir passiert.»


Lena Schneider *

«Vor kurzem begann ich meine Ausbildung als Fachfrau Gesundheit (FaGe) in einem Altersheim. In dieser Zeit wurde ich von einem Mitarbeiter sexuell belästigt. Ich wandte mich an meine Berufsbildnerin in der Hoffnung, dass sie mir helfen würde. Leider geschah das nicht. Stattdessen wurde ich auf eine andere Abteilung versetzt. Dort wurde es leider nicht besser. Ein weiterer Mit­arbeiter verhielt sich übergriffig. Diese Erfahrungen haben mich so belastet, dass ich mit Panik- und Angst­zuständen zu kämpfen habe. Ich konnte meine Ausbildung leider nicht weiter­führen und musste die Lehre abbrechen.»


Leonie Habegger *

«Als ich mit 16 Jahren frisch in der Lehre war, gab es einen älteren Mann, der die Intimpflege besonders ‹genoss›. Das machte er uns Pflegenden jedes Mal verbal deutlich spürbar. In der Lehre wurde das Thema sexuelle Belästigung kein einziges Mal angesprochen. Wir waren solchen Situationen einfach ausgeliefert – und das mit gerade einmal 16 Jahren.»

*Namen geändert

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