Wie weit rechts biegt Deutschland am 23. Februar ab?
Am Tor zur Hölle

Vor der Wahl in Deutschland wächst der Widerstand gegen den Aufstieg der rechtsextremen AfD. Aber auch gegen CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, der das Land mit einem Kapitalismus à la Trump überziehen will.

PAKT MIT DEM TEUFEL: Dass Friedrich Merz mit Alice Weidel ein Gesetz durchbringen wollte, löste Demos in ganz Deutschland aus. Auf dem Bild ein Protestplakat aus Berlin. (Foto: Keystone)

Albrecht Weinberg (99) ist einer der letzten Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, wo Hitlers Nazis mehr als 1,1 Millionen Juden, Kommunistinnen, Roma und Gewerkschafter ermordet hatten. Dieser Tage warf Weinberg sein Bundesverdienstkreuz in den Müll. Er ertrage es nicht, sagte er, dass Friedrich Merz, der angesagte nächste Bundeskanzler Deutschlands, mit der rechtsextremen Partei AfD paktiere. Weinberg sieht in der AfD genau das, was die meisten Deutschen in ihr erkennen: die Nachfolgepartei der Nazis.

GENUG: Der Auschwitz-Überlebende Albrecht Weinberg will sein Bundesverdienstkreuz zurückgeben. (Foto: Keystone)

Weinbergs Zorn hatte Merz am 29. Januar im Parlament mit einer brutalen Resolution gegen Ausländer und Asylsuchende erregt. Der CDU-Mann wusste, dass allein die AfD ihren Antrag unterstützte (plus ein paar Versprengte der neoliberalen FDP). Es war ein inszenierter Tabubruch: Merz riss die «Brandmauer» ein, die Deutschlands Demokratie seit 1945 vor einem Remake des Faschismus schützen sollte. Ein SPD-Abgeordneter konstatierte:

Merz hat das Tor zu Hölle aufgestossen.

Gegen Faschismus geimpft?

So schnell kann es gehen. Als vor einem Jahr das Rechercheteam Correctiv ein geheimes Treffen von AfD, österreichischen Faschisten und Wirtschaftsführern enthüllte, bei dem die massenhafte Deportation von Ausländerinnen und Ausländern geplant wurde («Remigration»), explodierte millionenfacher Protest. Ein Berliner Politikprofessor schrieb mir damals:

Nach den Verbrechen des Dritten Reiches (1933 bis 1945), nach Holocaust und Weltkrieg ist Deutschland gegen den neuen Faschismus geimpft.

Wenige Monate später avancierte die AfD bei Landtagswahlen im Osten vielerorts zur stärksten Kraft. Heute stehen die Rechtsextremen in den Umfragen für die Bundestagswahl vom 23. Februar an zweiter Stelle, nur wenig hinter der CDU, aber weit vor den Sozialdemokraten (SPD) um Kanzler Olaf Scholz. Das Undenkbare ist plötzlich möglich geworden.

Besonders, seit der Apartheid-Nostalgiker Elon Musk die AfD und ihre Kandidatin Alice Weidel zum Kern einer rechtsextremen Internationale machen möchte. «Nur die AfD kann Deutschland retten», tönte der Tech-Oligarch und Trumps Mann fürs Grobe. In einem hirnrissigen Live-Chat, dem 200 000 Personen zugeschaltet waren, kam er mit Weidel überein, Hitler sei «Kommunist» gewesen. Die AfD, ein deutsches Wintermärchen.

Nur Stunden bevor die Welt die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee vor 80 Jahren feierte, rockte Musk den AfD-Wahlparteitag mit der Losung, «alte Schuld» zu ignorieren und «nur nach vorne» zu schauen. So flirtet Weidel mit Musk und liebt Putin. Sie mimt die Demokratin, macht aber mit einer Losung von Hitlers Sturmabteilung SA Wahlkampf: «Alice für Deutschland» («Alles für Deutschland»). Ihre Leute fressen Kreide, wollen aber unbedingt eine «88» in ihrem Autokennzeichen – zweimal den 8. Buchstaben des Alphabets für «Heil Hitler». Das Programm der AfD ist so krude, dass die italienische Neofaschistin Giorgia Meloni und Frankreichs Marine Le Pen mit Weidel nicht auf derselben Bank sitzen mögen.

«Nazis raus!» ist zu wenig

Merz’ ausländerfeindliche Inszenierung diente der Wahltaktik. Und der Banalisierung der AfD. Deren Umfragewerte stiegen sofort an. Dahinter steckt eine Täuschung. Merz will die braune Gefahr nutzen, um das deutsche Sozialmodell oder was davon noch übrig ist, endgültig zu brechen und einen rabiat verschärften Law-and-Order-Kapitalismus durchzusetzen. Er ist kein Konservativer, wie sein sauerländischer Katholizismus suggerieren könnte, sondern ein rechter Konterrevolutionär.

Merz weiss, was er tut. Ein Vierteljahrhundert lang war er der grosse Verlierer der deutschen Politik. Mehrmals schien er Favorit für das Kanzleramt, doch mal standen ihm die eigene Arroganz, dann eine Affäre um schwarze Kassen, schliesslich Angela Merkel im Weg. Also machte er massig Geld. Als Multi-Verwaltungsrat (unter anderem beim Chemieriesen BASF). Als Deutschlandchef des US-Kapitalfonds Black Rock, dem grössten Kapitalisten der Welt. Vor allem aber als Wirtschaftsanwalt und Partner der global agierenden US-Kanzlei Mayer Brown. Was Wunder, erschien er dem Establishment als der richtige Mann, die deutsche Krise brachial zu lösen.

Ein Programm für Kapital und AfD

Merz lässt keinen Zweifel daran, dass er dafür die dominierende Stellung der deutschen Wirtschaft in Europa rücksichtslos ausspielen wird. Sein Plan wirkt wie aus dem «Projekt 2025» kopiert, dem Programm der Heritage Foundation für Donald Trump. Grenzen dicht, harte Hand gegen innen, noch mehr Steuersenkungen für das Kapital, weitere Privatisierungen und Deregulierungen, Aufrüstung und massive Finanzhilfen für die Konzerne, dafür radikale Sparprogramme bei der sozialen Vorsorge und dem Service public… Und ein Vollstop beim ökologischen Umbau. Auffallend ist, dass diese Politik just jene Verhältnisse auf die Spitze treibt, die den Aufstieg der AfD befeuern:

Wachsende soziale Ungleichheit, gerade bei den Lebenschancen, mehr Armut (17,7 Millionen Deutsche sind heute schon «armutsbetroffen»), medizinische Wüsten, Mietnot, Zerfall des Service public, soziale Ausgrenzung, Auflösung gesellschaftlicher Zusammenhänge.

Für Merz ein doppelter Gewinn. Ist die AfD stark, kann er alle anderen erpressen: Ich oder der Faschismus. Das hat er sich beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron abgeschaut.

Ermattete Sozialdemokraten

Bisher vermochte die SPD dem wenig entgegenzusetzen. Bundeskanzler Scholz eröffnete seinen Wahlkampf in einer Hochburg, der VW-Stadt Wolfsburg. Ein Symbol. VW war kürzlich der Tatort eines sozialen Massakers. Um Fabrikschliessungen beim wichtigsten deutschen Industriekonzern abzuwenden, musste die Gewerkschaft IG Metall Lohnsenkungen, den Abbau von Tausenden von Stellen und weitere Zumutungen hinnehmen. Dies, obschon der VW-Konzern auf einem Milliardenpolster sitzt und der Besitzerclan Porsche-Piëch regelmässig fette Dividenden abzügelt.

Auch die «Mitbestimmung» (die Gewerkschaft sitzt im Aufsichtsrat) änderte daran nichts. Es war das Totengeläut auf das deutsche Sozialmodell des «gezähmten» Kapitalismus, also der «Sozialpartnerschaft». Die IG Metall wollte nicht erkennen, dass sich am Kommandoverhältnis Kapital – Arbeit nur etwas schrauben lässt, wenn es ständig durch Konflikte in Frage gestellt wird. Doch in der Krise hat das Kapital alles Interesse an einer «Sozialpartnerschaft» verloren.

Die Wüste lebt

In Deutschland geschieht, was in Frankreich oder Italien schon länger Fakt ist:

Die politische «Mitte», in der sich die traditionellen Parteien unter Einschluss der Sozialdemokratie immer wieder zusammenrauften, ist Vergangenheit. Das radikalisierte Bürgertum hat sich von sozialem Ausgleich und Demokratie verabschiedet.

Offenbar hat die Gesellschaft dies vor der Politik verstanden. Spontan fanden sich, nur Stunden nach dem von Merz provozierten Parlamentsbeschluss, in mehreren Städten Zehntausende zum Protest. Der Widerstand wirkte: Der Versuch der CDU, zwei Tage später ein Antimigrationsgesetz durchzuboxen, fiel durch. Am 1. Februar gingen allein in Hamburg mehr als 80 000 auf die Strasse. Tags drauf in Berlin waren sie schon Hunderttausende. Der Antifaschismus eint sie, doch diese Bewegung mobilisiert Klimabewegte, Feministinnen, Mieterverbände, Lehrer, Gewerkschafterinnen gegen eine künftige Regierung Merz für die Reichen.

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