Neue Studie: Geschichte der Sexarbeit in der Schweiz
«Anlocken zur Unzucht»

Was sie tun, ist nicht ­verboten. Sexarbeiterinnen wurden ­dennoch fichiert, in Heime ­gesteckt und aus dem Stadtbild ­vertrieben. Die ­Historikerin Sarah Baumann hat über ­Sexarbeit geforscht.

unter GENERALVERDACHT: In den fünfziger Jahren wurden Frauen verhaftet, die sich «falsch» verhielten. (Symbolbild: Getty Images)

Die Prostituierten rund um das Bellevue in Zürich seien eine «allgemeine Belästigung», sie würden «unverschämt, sehr direkt» ihre Dienste anbieten. So schrieben es in den 1950er Jahren die «Neuen Zürcher Nachrichten». An einer Tagung der Zürcher Kirchenpfleger empörte sich ein Redner, sogar Kinder auf dem Schulweg würden von «Dirnen» angerempelt, noch bevor sie den christlichen Segen der Konfirmation erhalten hätten. Die NZZ befand 1954, die Zwinglistadt werde zu einem «Sündenbabel».

Damals habe in Zürich eine regelrechte «moralische Panik» geherrscht, schreibt die Historikerin Sarah Baumann. Sie hat in ihrer Dissertation die Geschichte der Sexarbeit in Schweizer Städten erforscht. Eine Pionierleistung, für die sie kürzlich den Unia-Wissenschaftspreis erhalten hat (siehe Box).

Beginnend mit den 1950er Jahren, hat Baumann Quellen bis zu den 1980ern ausgewertet, darunter Zeitungsartikel, Akten aus Strafprozessen oder Interviews mit Sexarbeiterinnen. Es zeigte sich, dass die Mehrheit der Frauen Schweizerinnen waren, keine oder kaum eine Ausbildung hatten und aus sozial benachteiligten Schichten stammten. Sie arbeiteten vor allem in der Gastronomie, im Verkauf und in der Textilindustrie. Ohne Ausnahme erklärten Sexarbeiterinnen, die in den Gerichtsakten auftauchen, sie hätten mit dieser Tätigkeit angefangen, um Geld zu verdienen. Tatsächlich konnten Frauen mit dem Verkauf von Sex deutlich mehr verdienen als in anderen Berufen, laut Baumann meist zwischen 4000 und 6000 Franken im Monat. Einzelne Frauen, die sich als Domina spezialisiert hatten, nahmen gar bis 20 000 Franken im Monat ein. Eine Fabrikarbeiterin verdiente dagegen weniger als 10 Franken in der Stunde, eine Hausangestellte 1300 im Monat.

Der Unterschied zwischen Männer- und Frauenlöhnen für die gleiche Arbeit war noch grösser als heute: Anfang der 1970er Jahre lag er bei 30 bis 35 Prozent.

In der Mentalität der Nachkriegsschweiz war bezahlte Frauenarbeit nur dazu da, die Zeit zu überbrücken, bis eine Frau heiratete und Kinder bekam. Der Lohn einer Frau musste nicht eine Familie ernähren. Dafür war der Mann da. In diesem Weltbild nicht vorgesehen waren Frauen, die alleinstehend waren oder einen Mann durchfüttern mussten, der nicht arbeitete, dazu allenfalls noch Kinder. Für sie, so Baumann, «reichten die herkömmlichen Frauenlöhne kaum aus – und Sexarbeit wurde zu einer Option unter wenig anderen».

Prostitution war in der Schweiz seit 1942 nicht mehr verboten. Trotzdem wurde sie von Behörden und Gerichten immer wieder neu reguliert und eingeschränkt. In den 1950er Jahren liess die Panik, die der Strassenstrich in Zürich auslöste, das Pendel stark in Richtung Repression ausschlagen. Anlass bot der Fall einer jungen Frau, die von der Zürcher Staatsanwaltschaft des verbotenen «Anlockens zur Unzucht» beschuldigt wurde. 1955 befand das Bundesgericht die Frau für schuldig – und legte fest, dass sich eine Frau bereits strafbar mache, wenn sie an einem für Prostitution bekannten Ort stehe und «sich nach Art einer Dirne kleidet, durch einen bedeutsamen Blick auf Männer, langsames Auf- und Abgehen und dergleichen zu erkennen gibt, dass sie ihren Leib feilhält».

Baumann zeigt, dass dieses Urteil nicht nur Sexarbeiterinnen traf, sondern alle Frauen. Eine davon war die Journalistin und Aktivistin Iris von Roten. Sie wurde 1955 wegen Verdachts auf Prostitution verhaftet, als sie gegen Mitternacht in einem Pelzmantel und Manchesterhosen über den Zürcher Predigerplatz spazierte. Zwar erkannten die Polizisten auf dem Posten ihren Irrtum und entliessen sie wieder. Doch als die Frauenrechtlerin die ungerechtfertigte Verhaftung in einem NZZ-Artikel öffentlich machte, erntete sie das, was man heute einen Shitstorm nennt. Die Zürcher Polizei wies alle Schuld von sich und diskreditierte die promovierte Anwältin als «eine aus einer Nervenanstalt entwichene Kranke». Das «Schweizer Frauenblatt», für das von Roten früher als Redaktorin gearbeitet hatte, warf ihr vor, den Vorfall durch ihr «ausgesprochen ungeschicktes Benehmen» provoziert zu haben (mehr über von Roten in work).

Dabei war sie keineswegs das einzige Opfer einer solchen Verwechslung: Mehrmals hielt die Zürcher Polizei elegant gekleidete Frauen, die auf ihren Ehemann oder Freunde warteten, fälschlicherweise für Sexarbeiterinnen. Mit ihrem Urteil hätten die Bundesrichter, so die Analyse der Historikerin, «bestimmte Verhaltensweisen von Frauen in der Öffentlichkeit als Symbol der sittlichen Entgleisung» eingestuft. Wie absurd das zumindest aus heutiger Sicht ist, zeigt Sarah Baumann, indem sie das Urteil und die daraus folgende Polizeipraxis wie folgt zusammenfasst: «Frauen sollten nachts nicht alleine in der Stadt unterwegs sein und wenn, dann nur schnellen Schrittes.»

Auch wenn Sexarbeiterinnen nicht straffällig geworden waren: in einigen Kantonen, darunter Zürich und Waadt, konnten sie die Behörden auf administrativem Weg in Erziehungs- und Arbeitsanstalten einsperren. Zwar ging diese Praxis ab Mitte der 1960er Jahre zurück, die entsprechenden Gesetze blieben aber bis 1981 in Kraft.

1969 hob das Bundesgericht sein restriktives Urteil zum Anwerben wieder auf. Nun durften Sexarbeiterinnen in der Öffentlichkeit auf Freier warten, solange sie potentielle Kunden nicht ansprachen oder ­anfassten.

Doch ihre Arbeit wurde dadurch nicht einfacher. Im Gegenteil: Als Reaktion auf das Urteil verschärften die Städte die Repression gegen Prostituierte ab den 1970er Jahren nochmals deutlich. Sie ­erliessen sogenannte Sperrzonen. Das öffentliche Anwerben in Wohnquartieren, Parks und zahlreichen anderen Orten wurde verboten. Prostitution blieb in den ­Augen der Behörden unerwünscht – rechtliche Lockerung und sexuelle Revolution hin oder her. Baumann stellt fest: «Die alte Formel wirkte fort, mit dem Unterschied, dass sittlich-moralische Bedenken in raumplanerische und ordnungsrechtliche Erfordernisse übersetzt wurden.»

Zusätzlich fichierte die Polizei die Sexarbeiterinnen. In Städten wie Bern und Zürich führte sie eine «Dirnenkartei». 1972 prahlte der Zürcher Kripo-Chef mit dem «breiten erkennungsdienstlichen Material», das man sammle. Es werde notiert, «welches Auto die Dirne fährt, welches Hündchen sie mitführt, wo sie auf die Freier wartet, ob sie vorwiegend Masochisten oder Sadisten bedient, ob sie schielt, gross oder klein, dick oder dünn ist, welchen Dialekt sie spricht und noch viele andere Details». Auch Bussen, Haftstrafen und fürsorgerische Massnahmen wurden auf denselben Karteikarten vermerkt. Treffend bemerkt Baumann: Obschon käuflicher Sex legal war, bewegten sich die Sexarbeiterinnen «aus behördlicher Sicht stets im Bereich des Illegalen». Dazu passt, dass eine Karte auch dann in der Kartei blieb, wenn eine Frau mit der Sexarbeit aufhörte. Dieses Sammeln von persönlichen bis intimen Daten, so stellt Baumann klar, war ein Eingriff in die persönliche Freiheit, deren Schutz die Bundesverfassung garantiert. Gleichwohl stellt die Autorin fest: «Das Registrieren von Sex­arbeiterinnen ist bis in die Gegenwart eine gängige polizeiliche Praxis.»

Unia-Preis: Forschung zur Arbeit sichtbar machen

AUSGEZEICHNET: Sarah Baumann.
(Foto: Florian Bachmann)

Forschung zum Thema Arbeit: Davon gibt es in der Schweiz zu wenig. Um das zu ändern, hat die Unia einen Wissenschaftspreis gestiftet. Er ist mit 4000 Franken dotiert und wird alle zwei Jahre verliehen. Ziel ist es, herausragende Forschung zum Thema Arbeit öffentlich ­anzuerkennen.


Im vergangenen Dezember kürte die Jury Sarah Baumanns Dissertation zur Siegerin (work berichtete). In der Laudatio strich Unia-Präsidentin Vania Alleva ­deren Perspektive auf die Prostitution hervor: «Sie versteht und untersucht den Verkauf von Sex konsequent als Arbeit.» Damit stelle sie den Skandal der Prostitution vom Kopf auf die Füsse: «Schändlich sind nicht jene, die diese Arbeit leisten, sondern die sozialen Bedingungen, unter denen ihre Arbeit stattfindet.» (che)


Premiere in Belgien: Umfassende Rechte für Sexarbeiterinnen Recht auf rente und Lohn bei Krankheit

PROSTITUIERTE UND STOLZ: In Belgien haben die Sexarbeiterinnen für mehr Rechte gekämpft. (Foto: Utsopi)

Stop, das geht mir zu weit. Oder: Diesen Kunden bediene ich nicht. Seit kurzem haben Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in Belgien offiziell das Recht, sich zu weigern oder eine sexuelle Handlung jederzeit abzu­brechen. Und sie dürfen deswegen nicht entlassen werden.

Ein neues Gesetz regelt die Rechte der Arbeitnehmenden im Sexgewerbe umfassend und stellt sie rechtlich Beschäftigten in anderen Berufen gleich. Jetzt haben sie Anrecht auf einen ­Arbeitsvertrag, auf eine ­Altersrente und auf Sozialleistungen wie Lohn bei Krankheit, Mutterschafts­urlaub und eine Krankenversicherung. Laut der britischen BBC ist Belgien das erste Land mit einem solchen Gesetz.

Auflagen

Alle Arbeits­räume von Sexarbeiterinnen müssen neu mit einem Alarmknopf ausgestattet sein. Das Gesetz regelt auch die Bedingungen, ­unter denen Zuhälter legal arbeiten können: Sie müssen ihren Geschäftssitz in Belgien haben und dürfen nicht wegen einer schweren Straftat vorbestraft sein.

Für das Gesetz gekämpft hat die belgische Sexarbeiterinnen-Basisgewerkschaft Utsopi. Während der Corona-Pandemie gingen ihre Mitglieder auf die Strasse und protestierten dagegen, dass sie, obwohl von den Corona-Massnahmen stark betroffen, keine staatliche Unterstützung erhielten. Seither hat das Land eine Kehrtwende vollzogen: 2022 legalisierte das Parlament die bis dahin ver­botene Sexarbeit. Kurz darauf begann die Regierung die Arbeit am neuen Gesetz. Das erklärte Ziel: Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter besser zu schützen. (che)

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