Wahlen in Deutschland
Das Heidi, das keines ist

Dammbruch in Deutschland: Die rechtsextreme AfD regiert künftig mit, egal, mit wem CDU-Mann Friedrich Merz seine Kanzler-Koalition baut. Doch wir haben auch eine gute Nachricht.

HELDIN HEIDI: Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek geht auf Social Media viral und überzeugt die jungen Wählerinnen und Wähler mit ihren Reden. (Foto: Keystone)

Neonazis zündeten seinen kurdischen Eltern das Haus im Berliner Bezirk Neukölln an. Es war nur einer von mehreren Mord-Anschlägen auf Ferhat Koçak. Rechtsextreme und Bürgerliche hatten den Mann mit dem starken Engagement für eine offene, sozial gerechte Gesellschaft zum Feindbild erklärt. Doch jetzt wurde Koçak für die Partei Die Linke rauschend in den Bundestag gewählt, weit vor den Figuren von AfD und CDU. Die Partei, die niemand auf dem Schirm hatte, ist nach einem fulminanten Wahlkampf die lokal stärkste Kraft in der Hauptstadt.

Kabale und Hiebe

Nach dieser Bundestagswahl wird viel Trübseliges über Deutschland zu lesen und zu sehen sein. Etwa, wie die AfD, die zwischen trumpistischem Irrsinn und offenem Neofaschismus laviert, ihren Stimmenanteil auf 20,8 Prozent verdoppeln konnte. Und dabei jeden Wahlkreis in Ostdeutschland gewann. Oder wie sich die früher stolze SPD nach ihrer historischen Niederlage (16,4 Prozent) für den Wahlsieger Friedrich Merz von der CDU (28,5 Prozent) hübsch macht und dafür die letzten Reste Sozialdemokratie abschminkt. Oder wie Robert Habeck, der Vormann der Grünen, jeden rechten, asozialen und anti-ökologischen Mist mitmacht, um nicht draussen vor der Tür zu bleiben. 

Kabale und Hiebe heisst das gruselige Stück Politiktheater der nächsten Wochen. In der Hauptrolle: Friedrich Merz. Er darf nun eine Weile in der Sonne stehen, als Kanzler der europäischen Führungsmacht. Der Platzhalter der Finanzfonds und Konzerne hat im Wahlkampf mit rassistischem Zungenschlag die AfD-Themen Migration und Sicherheit bespielt. Sein brutal neoliberales Programm (work berichtete) kann die Probleme nur verschärfen. Deutschland verliert gerade beschleunigt seine industriellen Grundlagen, also seine Arbeit. Die Gesellschaft ist tief zerrissen, ein wachsendes Armutsproblem im reichen Wirtschaftswunderland (jede und jeder Sechste lebt bereits in Not) treibt viele in existenzielle Ängste vor Abstieg und Prekarität. Allein um die zerfallenden Infrastrukturen zu retten, müsste Merz sofort 600 Milliarden Euro finden – und das trotz Schuldenbremse und geplantem Steuerabbau für die Besitzenden. 

Die gute Nachricht

Bei aller bürgerlichen Rhetorik weiss Merz genau, dass er für sein Paradies der Superreichen die Demokratiefeinde von der AfD braucht (vor allem, seit die Oligarchenpartei FDP ausgeschieden ist). Da schnappt dieselbe Falle zu wie schon in Frankreich und Italien. Wo ein radikalisiertes Bürgertum (die «bürgerliche Mitte») für das Kapital die minimalen sozialen Sicherheiten schleift, regieren die Neofaschisten mit, auch ohne offizielles Bündnis – und am Ende übernehmen sie. 

Doch vielleicht liegt die entscheidende Erkenntnis dieser Bundestagswahl tief versteckt unter dem medialen Geschrei um Merz, Scholz, Habeck & Co: Bei den Wählerinnen und Wählern unter 30 hat klar die Linke gewonnen, vor AfD und elf Punkte vor der CDU. Bei Erstwählenden holte sie gar 27 Prozent.

IN FEIERLAUNE: Die Linke hat mit einem Wahlergebnis von 8,77 Prozent überzeugt. (Foto: Keystone)

Das überraschte. Bei der Europawahl vor acht Monaten lag die Linke noch bei 2,4 Prozent. «Gibt es die überhaupt noch?» fragten Kommentatoren, die sie als DDR-nostalgisch und populistisch missverstanden. Nichts, was junge Menschen anspricht. Allein schon der Name «Die Linke» wirkt gestrig. Lange hatte die Partei dieses Vorurteil mit absurden Streitereien gut bedient. 

«Wer kann heute nicht links sein?»

Verblüfft rangen die Kommentatoren jetzt um Erklärungen für den schnellen Aufstieg. Manche fanden sie in der linken Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek. Sie ist ein Star auf Tiktok und Instagram. Im Bundestag sorgt die 36-Jährige immer wieder für Furore, blitzgescheit, scharf analysierend, mit wallendem roten Haar, alerter Körpersprache und hellem Gemüt. Ihre schneidende Brandrede gegen Merz‘ Tändelei mit der AfD ging sofort millionenfach viral, Merz blieb das süffisante Grinsen im Hals stecken. Co-Spitzenkandidat Jan van Aken nennt sie die «Queen» des Parlamentes, der Rapper MC Smook widmete ihr einen Song. 

Das Phänomen Linke auf «Heidi und die Sozialen Medien» zu beschränken, greift aber zu kurz. In Wahrheit hat sich die alte Leninisten-Partei seit einem Jahrzehnt systematisch zur Graswurzelbewegung verwandelt. Schon 2016 testeten sie Haustür-Wahlkämpfe, 2025 klopften Tausende von Aktivistinnen und Aktivisten hundertausendfach an Türen, «um zu hören, nicht um zu reden.» Etwa in Neukölln ein «Team Koçak». Das schlägt sich in Programm und konkreter Arbeit nieder. Bei der Linken gibt es Sozialberatung, einen Mietwucher-Rechner, ein Meldeportal gegen Mindestlohnbetrug, Heizkostenrechner, Rechtshilfe… Aktion statt PR und Seminare über Immigration und Verbrechen: Mietendeckel, Vermögenssteuer, Familienhilfe, mehr Gewerkschaftsrechte, mehr Demokratie, gerechte Klimapolitik etc. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim hat alle Parteiprogramme durchgerechnet. Resultat: Nur die Linke bringt Verbesserungen für 70 Prozent der Bevölkerung – und das ist erst noch voll finanziert. Da fragt Reichinnek ganz entspannt: «Wer kann bei den heutigen Verhältnissen nicht links sein?»

Gesellschaft gegen das Kapital

Doch diese Wahl, das macht sie klar, ist nur ein Zwischenschritt. Mobilisierung, Basisarbeit und Parlamentarismus müssten nun verschränkt, verstetigt und zur gesellschaftlichen Macht entfaltet werden. Mehr als 35 000 Neu-Mitglieder seit Januar teilen diese Vision. Und einige Hundert Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter stützten den Wahlappell der Linken. Denn misslingt das Vorhaben, spaziert die AfD in spätestens vier Jahren zur Macht. 

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