Jean Ziegler

Das Massaker, das durch den Hunger täglich an Zehntausenden von Menschen verübt wird, ist der absolute Skandal ­unserer Zeit. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen (Mangel­ernährung, Krankheiten usw.). Die FAO (Weltorganisation der Uno für Landwirtschaft und Ernährung) liefert in ihrem aktuellen Bericht die Zahlen: Im Jahr 2023 litten bis zu 757 Mil­lionen Menschen an akutem Hunger, das ist jede elfte Person weltweit. Während der Coronapandemie ist die Zahl der von Hunger Betroffenen in die Höhe geschnellt und seither nicht mehr gesunken.

Zudem waren 2023 rund 29 Prozent der Weltbevölkerung von Ernährungsunsicherheit bedroht, das sind über 2 Milliarden Menschen. Das heisst, diese Menschen haben keinen regelmässigen Zugang zu gesunder und ausreichender Nahrung. Die Kosten für eine gesunde Ernährung sind weltweit seit 2017 gestiegen und erreichten ihren Höchststand im Jahr 2022. Die Hauptgründe: die Pandemie und der Krieg in der Ukraine. Sie führten zu einem ­massiven Anstieg der internationalen Lebensmittel- und ­Energiepreise.

Unrecht

Die FAO weist auch nach, dass die weltweite Landwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also weit mehr als die heutige Weltbevölkerung von acht Milliarden. Hunger ist kein Naturgesetz, sondern gemacht. Durch Kriege und durch zehn transkontinentale Grosskonzerne, die ­Produktion und Transport, Preise und Verteilung von 85 Prozent der Nahrungsmittel kontrollieren. Sie entscheiden also, wer zu essen hat und überlebt, wer hungert und stirbt. Das ist die kannibalische Weltordnung. So ist denn auch in ärmeren Ländern der Anteil der Bevölkerung, die keine oder keine gesunden Nahrungsmittel kaufen können, viel höher als in reichen Ländern. Und Frauen sind stärker betroffen als Männer.

Kriege

Ein häufiger Grund für Hunger sind bewaffnete Konflikte. Zudem werden Nahrungsmittelknappheit und Hunger bewusst als Waffen eingesetzt, Landwirtschafts-, Wasser- und Energieinfrastruktur werden absichtlich zerstört. Was von der Zerstörungswut bleibt, ist die unsichere Ernährungssituation der Bevölkerung, die oft tödlich ist. Ernährungsunsicherheit aufgrund von Kriegen führt zu 7784 bis 21 406 Todesfällen pro Tag.

Folglich ist das tägliche Massaker kein Schicksal. Ein Kind, das verhungert, wird ermordet. Der Hunger ist menschen­gemacht und könnte mit einigem gutem Willen schon morgen von der Erde getilgt werden.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

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