Verdi-Sprecher zur Bundestagswahl:
«Wer auch immer regiert, sollte wissen: Wir Gewerkschaften sind ein starker Player!» 

Am 23. Februar wählen die Deutschen ein neues Parlament – und damit die Grundlage für eine neue Regierung. Wie positionieren sich eigentlich die Gewerkschaften? 

ENGAGIERT FÜR BESCHÄFTIGTE: Verdi-Sprecher Jan Jurczyk (64) im Interview.

work: Herr Jurczyk, ganz grundsätzlich gefragt: Wie geht es den Lohnabhängigen in Deutschland?
Jan Jurczyk: Die Situation fällt für Arbeitnehmende je nach Branche und Berufsgruppe unterschiedlich aus. Zurzeit sind die Inflationsraten wieder deutlich niedriger, aber gesunken sind die Preise nicht. Tarifpolitisch konnten wir mit zum Teil erfreulichen Lohnabschlüssen die Inflationsfolgen abmildern und stellenweise ausgleichen – leider aber nicht flächendeckend. Zudem gibt es Problembereiche: Vereinfacht ausgedrückt stehen exportorientierte Industriebranchen zurzeit stärker unter Druck – und damit die Arbeitsplätze dort – als einige der Dienstleistungsbranchen. Der Fachkräftemangel macht sich immer stärker bemerkbar, stellenweise kann man sogar von einem Arbeitskräftemangel sprechen. Das alles wirkt sich auf die Lohnfindung aus. Es gibt immer noch Bereiche, die schwer zu organisieren und deren Beschäftigte auf den gesetzlichen Mindestlohn angewiesen sind. Der muss unbedingt auf 15 Euro angehoben werden.

Am 13. Februar ist es in München zu einer Amokfahrt auf eine Verdi-Demonstration gekommen. Die Herausforderungen für Verdi müssen in diesen Tagen enorm sein. Was ist jetzt das Wichtigste?
Wichtig ist, dass alle unsere Kolleginnen und Kollegen Zeit und Gelegenheit finden, Anteil und Abschied zu nehmen von unserem Mitglied Amel und ihrer zweijährigen Tochter, die friedlich an der Demonstration in München während der laufenden Tarifrunde teilgenommen haben. Ihr Tod erschüttert uns alle zutiefst und überlagert sämtliche Aktivitäten. Deswegen verzichten wir zurzeit auf lautstarke Streikkundgebungen und geben in unseren Veranstaltungen Raum für Gedenken und Trauer. Wir denken aber auch, dass es im Sinne unserer verstorbenen Kollegin ist, wenn wir unseren Kampf um bessere Entlohnung, Entlastung und bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten weiter fortsetzen – wenn es sein muss auch mit Streiks. Denn unsere Kollegin war und bleibt für immer Teil unserer solidarischen Gemeinschaft aus Arbeitnehmenden unterschiedlichster Herkunft, Hautfarbe, Religion. Nur das zählt, das ist das Wichtigste.

ZUSAMMENHALT UND STÄRKE: So positioniert sich Verdi in den sozialen Medien.

Wie nehmen Sie die aktuelle Stimmung in Deutschland wahr, und wie schätzen Sie die Lage mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen ein?
Die Stimmung ist polarisiert. Die CDU/CSU im Bundestag hat Ende Januar erstmals mit der in Teilen rechtsextremen AfD eine Mehrheit für hochproblematische Massnahmen gegen Migration herbeigeführt. Die Unionsfraktion hat also für ihre Verschärfungsvorschläge die Stimmen derer in Kauf genommen, die unsere Demokratie verachten und das Grundgesetz bekämpfen. Das war ein Tabubruch: Er spaltet die Gesellschaft und schwächt die Mitte. Hunderttausende sind in Deutschland auf die Strasse gegangen, um ihren Protest auszudrücken – auch die Gewerkschaften haben sich beteiligt. Es ist eine fatale Folge dieser Debatte, dass jetzt über Migrantinnen und Migranten fast nur noch als Gefährdung diskutiert wird. Dabei ist es umgekehrt: Deutschland braucht dringend Zuwanderung, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen und die sozialen Systeme zu sichern. 

Positioniert sich Verdi für einen Kanzlerkandidaten oder gegen Kandidatinnen? 
Nein. Seit der Gründung der Bundesrepublik treten die grossen Gewerkschaften nicht mehr als Richtungsgewerkschaften mit fester parteipolitischer Bindung auf, sondern als Einheitsgewerkschaften, die im Prinzip offen für die Positionen aller Parteien sind, sofern sie auf dem Boden des Grundgesetzes demokratisch, antirassistisch und antidiskriminierend agieren. 

Das ist Verdi

Am 19. März 2021 fusiionierten in Berlin fünf Gewerkschaften aus dem öffentlichen, dem Dienstleistungs- und dem Mediensektor zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi). Heute zählt Verdi rund zwei Millionen Mitglieder aus etwa 1000 Berufen und ist damit hinter der IG Metall die zweitgrösste Gewerkschaft Deutschlands.

Was tut Verdi im Vorfeld der Wahlen, um die politischen Entscheidungen zugunsten der Lohnabhängigen zu beeinflussen?
Unsere Kolleginnen und Kollegen sind auch unabhängig von Wahlen ständig im Gespräch mit der Politik, um die Interessen der Arbeitnehmenden einzubringen und durchzusetzen. Im Vorfeld der Wahl steigt der Informationsbedarf. Daher befragen wir die Wahlkreiskandidatinnen nach ihrer Haltung zu unseren Forderungen und dokumentieren die Antworten. Und wir haben Spitzenpolitikerinnen und -politiker demokratischer Parteien zum Gespräch mit unserem Vorsitzenden Frank Werneke geladen. Alle Interviews sind auf unserer Homepage und dem Verdi-YouTube-Kanal zu finden.

Welche Partei oder Koalition sieht Verdi aktuell am ehesten in der Lage, die Interessen der Arbeitnehmenden voranzubringen?
Wir wollen eine arbeitnehmerfreundliche und eine soziale Politik. Und wir wollen demokratische Politik, die Mitbestimmung fördert und das Streikrecht achtet. Und vieles mehr. Es ist kein Geheimnis, dass diese Forderungen in der Mitte und links davon Mehrheiten finden. Aber wer auch immer in Deutschland regiert, sollte wissen, dass die Gewerkschaften ein starker Partner sind – aber auch ein starker Player. Wir kämpfen für die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Was erwartet ihr konkret von der nächsten Bundesregierung?
Wir erwarten, dass die nächste Bundesregierung bereit ist, die Stimme der Gewerkschaften zu hören und dass sie Respekt vor den berechtigten Interessen der Arbeitnehmenden zeigt. Ganz konkret erwarten wir, dass wir zum Beispiel über ein Bundestariftreuegesetz sprechen, damit öffentliche Aufträge den Massstab für gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne setzen. Dass der Mindestlohn auf 15 Euro die Stunde erhöht wird. Dass die Kommunen hinreichend ausgestattet werden, um genügend Personal in Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Verwaltungen einsetzen zu können. Und wir brauchen gerechtere Steuern, die Stärkere stärker belasten.

Wie ist euer Blick in die Zukunft?
Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter denken nach vorne und grundsätzlich positiv. Es wird darauf ankommen, dass sich die Beschäftigten weiter organisieren, dass die Gewerkschaften mit möglichst vielen Mitgliedern in den Betrieben stark auftreten können, wenn es um höhere Löhne und gute Arbeit geht. Die Menschen haben es selbst in der Hand, wie stark sie sein wollen:

Verdi und die gesamte Gewerkschaftsfamilie sind dafür gerüstet, als starker Partner der Beschäftigten für sozialen Zusammenhalt und für Demokratie.

 

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