Zurück zur Menschlichkeit
Das neue Care-Manifest der Unia ist da – und macht Hoffnung

Das neue Care-Manifest der Unia entwirft die Vision einer guten Pflege und Betreuung. Zwei, die daran mitgearbeitet haben, sagen: Das ist kein Wunschtraum. Noch vor 30 Jahren haben wir so gearbeitet.

(Foto: Canva)

Erst vor 20 Minuten ist Willy Honegger nach Hause gekommen. «Heute war ein Neuneinhalb-Stunden-Tag, eine Stunde mehr als normal», sagt der 62jährige im Zoom-Gespräch. Er ist Psychiatriepfleger bei der Spitex Stadt Luzern. «Jemand vom Team ist krank, da müssen wir anderen seine Termine übernehmen.» Trotzdem nimmt er sich jetzt Zeit. Genauso wie Sandra Schmied, Pflegefachfrau im Altersheim Siloah Kühlewil in der Nähe von Bern. Sie hatte heute den einzigen freien Tag dieser Woche. Viel hatte sie nicht davon, sagt sie:

Am Morgen musste ich einkaufen, damit ich wieder was zu essen habe. Am Nachmittag bin ich auf dem Sofa eingeschlafen.

In zehn Jahren sollen Pflegende ihre Arbeit machen können, ohne immer wieder ans Limit zu gelangen. Weil es genügend Fachkräfte gibt und eine Arbeitswoche nicht mehr als 32 Stunden hat: Diese Vision ist der Kern des Care-Manifests der Unia. Schmied und Honegger haben daran mitgearbeitet, zusammen mit rund 20 Beschäftigten aus Pflege- und sozialen Berufen. Letzten Sommer wurde das Dokument an einer breitangelegten Fachtagung diskutiert, jetzt gibt’s die definitive Fassung als Broschüre.

SOEBEN ERSCHIENEN: Das Care-Manifest als Broschüre. (Foto: Unia)

Schwieriger Lebensabschnitt

Worum geht es? Sandra Schmied, 55jährig und seit 35 Jahren im Beruf, sagt es ganz einfach: «Menschlichkeit.» Und erklärt: Wer im Altersheim lebe, brauche mehr Zuwendung als andere. Der letzte Lebensabschnitt sei emotional eine intensive Zeit «und für viele nicht einfach. Fast zwangsläufig setzt du dich mit dem Leben auseinander, das du gelebt hast.» Auch mit Misserfolgen, unerfüllten Wünschen, vielleicht gar einem Trauma. «Solange du draussen bist und funktionierst, kannst du das locker verdrängen. Im Heim nicht mehr.»

Damit Menschen diese Lebensphase in Würde begehen können, so Schmied, bräuchten sie Begleitung und Betreuung. Sie sagt:

Wir Pflegende können das. Aber heute fehlt uns die Zeit dazu.

Weil die Heime nur für medizinisch-pflegerische Tätigkeiten Kosten verrechnen können, nicht für die Betreuung (work berichtete).

SETZT SICH FÜR MEHR MENSCHLICHKEIT IN DER PFLEGE EIN: Sandra Schmied. (Foto: zvg)

Herzstück: Die Vision

Das Manifest zeigt, wie ein anderes System aussehen könnte. «Wir sind im Jahr 2035. Die Schweiz hat die beste Langzeitversorgung der Welt» – so beginnt die Vision. Sie umfasst 35 Punkte zu Stichworten wie Autonomie, Erholung, Personalschlüssel oder altersgemischte Wohnformen. «Hochspannend» habe er die Arbeit an der Vision erlebt, sagt Willy Honegger. Und sie bringe jetzt eine andere Sichtweise in die Diskussion ein. Weil sie über die Mängel, den Stress und den Frust der Gegenwart hinausgehe und das zeige, worum es den Pflegenden im Kern geht. Auch er sagt das ganz einfach:

Wir möchten, dass es den Leuten, die bei uns sind, gutgeht.

WILL WIEDER MEHR ZEIT FÜR SEINE PATIENTINNEN UND PATIENTEN: Willy Honegger. (Foto: Manu Friederich)

Sandra Schmied sagt, die Vision sei gar nicht so utopisch. Vieles davon sei noch in den 1990er Jahren selbstverständlich gewesen, als sie in der Langzeitpflege angefangen habe. Damals habe man immer am Vormittag die ganze Pflege erledigt, am Nachmittag hatte man Zeit für Betreuung:

Wir gingen zusammen auf den Märit oder einen Spaziergang. Damit die Leute am Leben teilnehmen konnten. Das ging, weil wir genügend Personal waren in der Pflege.

Heute seien es in den Heimen, gemäss Minimal-Stellenschlüssel des Kantons, gerade noch halb so viele Mitarbeitende wie vor 30 Jahren.

Zusammen in die Ferien

Diese Zeiten hat auch Willy Honegger erlebt, in seinen ersten Jahren auf der Langzeitpsychiatrie: Da gehörte es zu den Aufgaben der Pflegenden in Ausbildung, jeden Mittwochnachmittag eine Aktivität für alle auf die Beine zu stellen. Zum Bräteln in den Wald, eine Schifffahrt, ein Besuch im Zirkus. Solche Sachen gebe es schon lange nicht mehr. Er erzählt:

Einmal gingen wir sogar mit Patientinnen und Patienten in ein Lagerhaus in die Ferien. Zwei Wochen lang! Heute ist das unvorstellbar.

Das Manifest, sagt Sandra Schmied, das gebe ihr wieder Hoffnung. «Dass wir unsere Arbeit wieder so machen können, wie wir es gelernt haben – und wie es die Jungen heute noch lernen.» Es sei leider kein Wunder, dass derzeit so viele Pflegekräfte den Beruf frustriert verliessen. Weil sie nicht gute Pflege und Betreuung leisten könnten, «sondern nur noch Massenabfertigung».

Jetzt geht’s los

Jetzt hofft sie, dass sich Pflegende von der positiven Vision anstecken lassen, statt zu kündigen. Nicht nur Pflegende. Sie ist überzeugt: Auch viele Chefinnen und Heimleiter wünschen sich bessere Bedingungen von der Politik. Weil sie sehen, dass die Heime heute den Bedürfnissen der Menschen zu wenig gerecht werden. Sie will das Manifest deshalb der Leitung ihres Heims vorstellen. «Denn auf dieser Basis, da bin ich sicher, können wir gemeinsame Lösungen finden.»

Auch Willy Honegger hat etwas vor. Der Zufall wolle es, sagt er und lächelt, dass er nächste Woche dran sei, die Teamsitzung zu leiten. «Da ist immer auch jemand von der Geschäftsleitung dabei. Da werde ich natürlich das Manifest kurz präsentieren.»

Keine Frage, sagt Honegger, die Pflegenden haben die Macht, die Dinge zu verändern. Aber:

Wir müssen uns in die politische Debatte einbringen. Nicht nur die Faust im Sack machen.

Das habe ihn schon damals irritiert, als er vom Bau in die Pflege gewechselt habe. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen trauten sich nicht, ihren Standpunkt zu vertreten. «Manchmal», sagt Honegger, «sage ich den Leuten auch heute noch: Tammi namal, redet miteinander. Sagt, was ihr wollt!»

Exemplare des Care-Manifests können hier gratis bestellt oder hier als PDF direkt heruntergeladen werden. Zur Online-Kurzversion geht es über diesen Link.

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