Drei Jahre Ukraine-Krieg
Ein russischer Gewerkschafter rechnet ab

Nach drei Jahren Invasion in die Ukraine zieht der russische Kriegsgegner und Gewerkschaftsaktivist Kirill Buketow (54) Bilanz. Und er sagt, warum Putins innere Gegner bisher gescheitert sind.

PROTESTE WELTWEIT: Zum dritten Jahrestag der russischen Invasion gingen die Menschen auf die Strasse, wie hier in Zürich. (Foto: Keystone)

Drei Jahre also sind vergangen. Drei Jahre seit dem Beginn der zweiten Phase der Militäroperation der russischen Truppen. Drei Jahre nach dem Angriff auf ein Nachbarland, auf die Ukraine. Wir kehren gedanklich an diesen Punkt zurück, zum 24. Februar 2022. Wir versuchen zu verstehen, was sich in uns verändert hat. Was sich draussen verändert hat. Was sich in der russischen Gesellschaft verändert hat. Und wie sich Europa in diesen Jahren verändert hat.
 
Aber wenn wir die letzten drei Jahre betrachten, müssen wir erkennen, dass es unmöglich ist, sie von jenem historischen Prozess zu trennen, der in Russland schon nach 2000 begonnen hat und schliesslich zu dieser gnadenlosen, sinnlosen und schrecklichen Militäroperation führte.
 
Die Geschichte begann, als Wladimir Putin an die Macht kam und versuchte, die russische Zivilgesellschaft zu dekonstruieren. Ab 2008 haben wir die Verschärfung der Repressionen gegen die Zivilgesellschaft erlebt. Welches Ausmass dies noch annehmen würde, konnten wir uns damals natürlich noch nicht vorstellen. Aber jetzt wird vieles klar.

Der Krieg von 2014 – Moskau in blau-gelbem Fahnenmeer

Der Krieg brach 2014 aus. Als Russland zum ersten Mal seine Truppen in die Ukraine verlegte. Doch dieser Krieg wurde innerhalb weniger Monate beendet. Die russischen Autoritäten hatten nicht mit einer so starken Gegenwehr der ukrainischen Bevölkerung gerechnet. Diese begann, aktiv Widerstand zu leisten. Die russischen Autoritäten hatten aber auch nicht mit einer so starken Protestwelle in der Heimat gerechnet.
 
Die Antikriegsproteste von 2014 bis Anfang 2015 waren massiv. Hunderttausende, wahrscheinlich gar Millionen gingen auf die Strasse. Viele weitere Menschen verurteilten das Vorgehen der russischen Behörden im stillen. Leider waren sich damals nicht alle bewusst, dass dieser Horror – in Form einer zweiten Phase der Operation – weitergehen würde, wenn sie nicht aktiv dagegen protestierten.

UKRAINISCHE UND RUSSISCHE FLAGGEN IN MOSKAU: Die Antikriegsproteste von 2014 und 2015 in Russland waren massiv. (Foto: Keystone)

Aber die Zahl der Menschen, die auf die Strasse gingen, war sehr beachtlich. Im Internet finden sich zahlreiche Fotos und Videos, auf denen zu sehen ist, wie sich die Strassen und Plätze Moskaus und St. Petersburgs mit Menschen füllten, die ukrainische Fahnen trugen. Wenn wir diese Fotos heute gemeinsam mit ukrainischen Freunden betrachten, können sie kaum glauben, dass in Moskau einst so viele gelb-blaue Fahnen zu sehen waren. Und dass so viele Slogans ein Ende der Massaker forderten.
 
Im Februar 2015 wurde die Operation gestoppt. Aber wir wussten nicht, dass sie nur ausgesetzt war und die Autoritäten bereits einen neuen Krieg vorbereitet hatten. Ab 2014/15 sahen wir, wie viel Geld und Ressourcen in den Militärapparat gepumpt wurden. Besonders die Schwarzmeerregion wurde aufgerüstet. Aber man sollte nicht vergessen, dass gleichzeitig der Abbau demokratischer Institutionen begann.

Zivilgesellschaft zerschlagen, dann Panzer ausfahren

Der wichtigste Ausgangspunkt ist die Ermordung von Boris Nemzow, dem prominentesten Kriegsgegner und damaligen Hauptkontrahenten Putins. Er wurde am 27. Februar 2015 direkt neben dem Roten Platz in Moskau erschossen. Die Folge war eine gewaltige Protestwelle. Wieder gingen Hunderttausende von Menschen auf die Strasse. Dann erkannten die Behörden, dass die nächtliche Ermordung von Gegnern mitten in den Städten alles andere als den gewünschten Effekt hervorruft, sondern das Anwachsen der Proteste.

DER ANFANG VOM ENDE: Mit Blumen gedenken Menschen dem ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow. Es folgten weitere Anschläge auf zahlreiche Oppositionsführer. (Foto: Keystone)

Darauf begannen andere Mechanismen zur Ausschaltung Andersdenkender. Vermehrt kam Gift zum Einsatz, insbesondere Nowitschok. Zahlreiche russische Oppositionsführer wurden Opfer von Vergiftungsversuchen. Zudem verlor ein freies Medium nach dem anderen erst die Unabhängigkeit, dann wurden die Titel zur Schliessung gezwungen. Politische Aktivistinnen und Aktivisten wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Gerichte wurden gesäubert von allen Richterinnen und Richtern, die nicht gehorsam genug waren.
 
Es kam zu Massenverhaftungen und Grossprozessen. Während bei früheren Repressionen Einzelfälle im Fokus waren, wurden nach 2015 kollektive Verfahren und Prozesse eingeleitet. Die Strafen wurden härter. Gleichzeitig wurden alle demokratischen Institutionen beschnitten und zivile Organisationen geschlossen.
 
Ende 2021 wurde die Moskauer Helsinki-Gruppe zerstört, eine Menschenrechtsorganisation, die zurückgeht auf die Helsinki-Konferenz von 1975 und die dort festgelegten Grundprinzipien für die Sicherheit in Europa. Im Februar 2022 wurde schliesslich Memorial aufgelöst, die internationale Organisation für Menschenrechte und die Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltherrschaft. Damit war der Dekonstruktionsprozess der Zivilgesellschaft abgeschlossen. Kurz darauf rollten die Panzer wieder in Richtung Ukraine.

Warum Putin den schwächelnden Lukaschenko stützt

Ich schildere das so ausführlich, weil es wichtig ist. Es gibt eine direkte Verbindung zwischen der Innen- und der Aussenpolitik. Und man kann das Problem der kriegsgetriebenen Aussenpolitik nicht lösen, ohne das Problem der aggressiven Unterdrückung der zivilen Freiheiten im Innern zu lösen. Jeder Friedensprozess wird scheitern, wenn er die Aussenpolitik von der Innenpolitik zu trennen versucht.
 
Als die russischen Streitkräfte am 24. Februar 2022 die ukrainische Grenze überquerten, war die Antikriegsbewegung innerhalb Russlands bereits gesäubert und jeglicher Instrumente und Strukturen für Aktionen beraubt. Wir hatten keine Möglichkeit mehr zu protestieren – zumindest nicht mehr wie 2014. Die Gesellschaft befand sich in einem Schockzustand. Zahlreiche Menschen versuchten zwar, auf die Strasse zu gehen, aber diese Proteste waren nicht sehr zahlreich und meist still. Diejenigen, die Transparente und Plakate hochhielten, wurden sofort verhaftet.

IM KEIM ERSTICKEN: Jede Form des Protests, wie hier gegen die Kriegs-Mobilisierung im Jahr 2022, wir von der Polizei niedergeknüppelt.

Zuvor war auf die gleiche Weise schon die demokratische Massenbewegung in Belarus unterdrückt worden. Als im Jahr 2020 Tausende Belarussinnen und Belarussen gegen die Fälschung der Wahlergebnisse auf die Strasse gingen, waren sie aufrichtig überrascht, als Putin zugunsten Alexander Lukaschenkos intervenierte. Und auch wir fragten uns, warum die russischen Autoritäten diesen schwächelnden Diktator unterstützten. Jetzt ist klar, dass Putin keinen anderen als Lukaschenko gewinnen lassen konnte, denn nur Lukaschenko konnte Belarus als Plattform für einen Angriff auf die Ukraine zur Verfügung stellen. In diesem Sinne sind die Schicksale von Belarus und Russland ähnlich. Beide Länder sind zu Geiseln von Putins militärischen Ambitionen geworden.
 
Im Februar 2022 stand die Zivilgesellschaft vor einem Scherbenhaufen – mit Hunderten politischen Gefangenen in Russland und Weissrussland, mit schrecklichen, unmenschlichen Haftbedingungen für diejenigen, die protestierten, mit massenhaftem Einsatz grausamster Folter gegen zivile Aktivisten und mit einer wirklich deprimierten und demoralisierten Gesellschaft, die keine Möglichkeit mehr hatte, sich gegen die Handlungen der Behörden zu äussern.

Vom Schock zur Solidarität

Die folgenden drei Jahre lassen sich ebenfalls in mehrere Etappen unterteilen. Das erste Jahr war ein Jahr der Lähmung. Die Menschen standen unter Schock. Viele Menschen verloren den Glauben an die Möglichkeit, etwas ändern zu können. Viele waren gezwungen, sich selbst und ihre Familien zu retten, sie mussten flüchten und sich eine neue Bleibe suchen. Die Menschen waren traumatisiert und deprimiert.
 
Doch schon damals, im März 2022, begann die russische Zivilgesellschaft, den atomaren Staub abzuschütteln , der sie bedeckt hatte. Die erste und zentrale Aufgabe war humanitärer Natur – den Menschen zu helfen, die unter der militärischen Aggression in der Ukraine gelitten hatten. In diesem ersten Jahr wurde sehr viel getan. Hier im Westen wurden die ukrainischen Flüchtlinge entlang fast aller humanitärer Korridore von Aktivisten der russischen Zivilgesellschaft empfangen. Von Przemyśl über Warschau bis nach Berlin und so weiter – überall, wo Flüchtlinge ankamen, standen auch Russinnen und Russen bereit.

*Zum Autor: Internationaler Arbeiteraktivist

ORDNET EIN: Gewerkschaftsaktivist Kirill Buketow. (Foto: Severin Nowacki)

Kirill Buketow (54) ist politischer Sekretär der Internationalen Gewerkschaft der Nahrungsmittelarbeiter (IUF) und seit 2008 in deren Genfer Zentrale tätig. Zuvor zog der gebürtige Moskauer jahrelang durch die Länder der ehemaligen UdSSR und verankerte die Gewerkschaft in den dortigen Tabak-, Fischerei- und Lebensmittelindustrien. Bereits in der Endphase der Sowjetunion beteiligte sich der damalige Maurer und Fabrikarbeiter am Aufbau unabhängiger Gewerkschaften. Nach einem Geschichts-, Rechts- und Philosophiestudium an der Pädagogischen Staatlichen Universität Moskau wirkte Buketow drei Jahre lang als Vize-Chefredaktor von «Solidarnost», der Zeitung des damals noch progressiven russischen Gewerkschaftsbunds FNPR. Buketow ist Mitglied der Unia und der SP Genf. Ausserdem ist er Redaktor bei «Rabochaya Politika», einem Onlineportal zum Studium der Arbeiterbewegungen Osteuropas.

Russischsprachige Menschen waren sehr gefragt. Denn die meisten Menschen, die vor den Feindseligkeiten flohen, kamen aus den östlichen Regionen der Ukraine. Für sie war Russisch natürlich die Hauptkommunikationssprache. Und eine grosse Anzahl von Unterkünften, Flüchtlingslagern und Rechtsauskunftsstellen wurde von russischen Aktivistinnen und Aktivisten organisiert. Sie sahen darin eine Gelegenheit – nicht etwa ihre Unfähigkeit, den Krieg zu stoppen, zu entschuldigen, sondern eine Gelegenheit, zumindest den Schaden ein wenig zu kompensieren, den Russland im Nachbarland und an dessen Bevölkerung anrichtete.
 
Sehr wichtig waren in dieser Zeit auch die europaweiten Massendemonstrationen zur Unterstützung der Ukraine. Die Evakuierung und Aufnahme von Flüchtlingen, die Massensolidaritätsaktionen wie in Zürich, Bern oder Genf – überall wurden diese Demonstrationen unter Beteiligung russischer Aktivistinnen und Aktivisten vorbereitet.

Im Exil blüht die Kultur auf

Aber nicht nur in Europa fanden solche Aktionen statt, auch in Russland gab es im Frühjahr 2022 zahlreiche Petitionen gegen den Krieg. Sie wurden von Ärzten, Lehrerinnen, Universitätsprofessoren und Studentinnen unterzeichnet. In der Folge wurden die Initiatoren und Unterzeichnerinnen dieser Petitionen verfolgt, und es wurde unmöglich, in der Öffentlichkeit zu protestieren.
 
Allmählich verlagerte sich die Bewegung in andere Länder, und viele russische zivilgesellschaftliche Einrichtungen wurden im Exil, vor allem in europäischen Ländern, wiederbelebt. Heute gibt es unzählige neuen Medien. Wir haben demokratische Zeitungen, die auf Russisch erscheinen. Wir haben Websites und Webressourcen. Es gibt Fernsehsender. Es gibt Blogs. Es gibt Verlage, die Bücher in russischer Sprache herausgeben, und es gibt Vertriebsnetze für diese Bücher. In der Schweiz gibt es den Literaturpreis «Dar». Für diesen haben sich bereits über 150 russischsprachige, kriegsgegnerische Autorinnen und Autoren mit ihren Büchern beworben. Auch Musiker und Musikerinnen treten auf, Filme, Dokumentar- und Spielfilme, werden gedreht. Und auch das russische Theater lebt. Heute gibt es in fast jeder grossen Stadt, zum Beispiel in Zürich und Genf, mindestens ein russisches Schauspielensemble mit Antikriegsüberzeugungen.
 
An all dem sind Tausende von Menschen beteiligt, die die russische Kultur dorthin zurückbringen, wo sie hingehört: in den Schoss des humanistischen Denkens und der humanistischen Kultur der Welt. Wir nutzen die russische Sprache jetzt als Mittel zur Konsolidierung der Gesellschaft und als Mittel, um Putins Propaganda entgegenzutreten.

Die schweren Fehler der demokratischen Opposition

Was hat sich in diesen drei Jahren sonst noch verändert? Wir haben unsere Lehren gezogen und eine Menge Dinge erkannt. Wir haben erkannt, dass wir viele und grosse Fehler gemacht haben. Besonders in jener Zeit, in der wir mit dem Aufbau zivilgesellschaftlicher Institutionen und freier, unabhängiger und demokratischer Gewerkschaften in Russland und in den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) beschäftigt waren.
 
Wir haben nämlich erkannt, dass eine echte Zivilgesellschaft völlig unabhängig und unkontrolliert sein muss. Dass sie ihre eigenen finanziellen Mittel aufbringen muss und nicht von staatlichen Zuschüssen, von privaten Spendern, von der Wohltätigkeit der Oligarchen oder von ausländischen Zuschüssen abhängig sein darf. Und sie sollte sich auf Menschen stützen, die bereit sind, täglich ihre Zeit und ihre Kraft in die Aufrechterhaltung der zivilen Kontrolle über das staatliche System zu investieren.

Update: Was in den letzten Tagen passiert ist

In diesen Tagen haben mehrere europäische Regierungschefs eine einmonatige Waffenruhe im Ukrainekrieg vorgeschlagen. Dieser Vorschlag wurde am Ukraine-Gipfel in London diskutiert. Die Europäische Union hat zudem ihre Unterstützung für die Ukraine bekräftigt und betont, dass sie bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen, falls die USA ihre Unterstützung reduzieren werden. 

Dem vorausgegangen ist ein Eklat im Oval Office des Weissen Hauses: Vor versammelter Weltpresse griffen US-Präsident Donald Trump und sein Vize J.D. Vance den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskiverbal an. Sie unterstellten ihm unter anderem, er riskiere mit seinem Verhalten einen Dritten Weltkrieg und er zeige sich den USA gegenüber nicht dankbar. Der Kreml nahm diesen Vorfall genüsslich auf und liess verlauten, dass der ukrainische Präsident Selenski das Haupthindernis für den Frieden sei.

US-Präsident Trump drängt auf ein Rohstoffabkommen mit der Ukraine. Der genaue Vertragstext ist noch nicht bekannt. Im Kern geht es darum, dass die USA ihre geleistete Kriegshilfe vergütet haben will – konkret durch den Zugriff auf ukrainische Rohstoffe wie Seltene Erden, Öl und Gas. Selenski betonte nach dem Eklat, dass er weiterhin bereit sei, ein Rohstoff-Abkommen mit Trump zu unterzeichnen, wies aber auch darauf hin, dass ohne Sicherheitsgarantieren der USA ein Frieden nicht möglich sei.

Heute hält die russische demokratische Bewegung, die sich selbst als Oppositionsbewegung versteht, verschiedentlich Konferenzen ab. Dort wird dann über das mögliche «schöne Russland der Zukunft» diskutiert und darüber, wie es aussehen soll. Es werden Erklärungen und Stellungnahmen verfasst, die viele richtige Botschaften enthalten. Etwa die Forderung nach einem unabhängigen Parlament, unabhängigen politischen Parteien, unabhängigen Medien oder unabhängigen Gerichten.
 
Doch praktisch nirgendwo, auf keiner Plattform und in keinem dieser Memoranden finden wir einen Appell an die sozialen Notwendigkeiten und die grundlegenden Bedürfnisse der arbeitenden Menschen. Nach wie vor zieht es die demokratische Bewegung vor, diese Menschen zu ignorieren, als ob es sie nicht gäbe. Aber genau das ist einer der Gründe, warum die Zivilgesellschaft nicht in der Lage war, eine nachhaltige Demokratie in Russland zu etablieren. Ihre Plattformen enthalten keine Elemente der sozialen Gerechtigkeit. So ist überhaupt nicht klar, warum die Lohnabhängigen eine demokratische Bewegung unterstützen sollten. Wozu brauchen wir eine Demokratie, wenn die Menschen in Armut leben?

Armut als Treiberin des Krieges

Natürlich diente die Schaffung einer grossen Masse von Armen auch dazu, die Gesellschaft auf den Krieg vorzubereiten. Die Hauptmotivation für diejenigen, die sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, war nämlich nicht die politische Unterstützung für Putin. Ebenso wenig war es Hass auf die Ukrainer. Die Hauptmotivation war ihr niedriges Einkommen. Es ist so niedrig, dass die Menschen nicht in angemessenen Verhältnissen leben können. Sie haben auch keinen Zugang zu hochwertigen Informationen, zu hochwertiger Bildung, die kritisches Denken fördert, oder zu Kultur. Und natürlich ist eine solche Gesellschaft der wichtigste Treibstoff für die Kriegspropaganda. Aber vor allem schafft sie den wirtschaftlichen Anreiz, damit Menschen in die Kriegsteilnahme einwilligen.

HAT DIE ARBEITERINNEN UND ARBEITER IN RUSSLAND VERARMEN LASSEN: Wladimir Putin. (Foto: Keystone)

Unsere Diskussionen über die Zukunft Russlands, über die Zukunft Osteuropas, über die Zukunft ganz Europas müssen eine Antwort auf die Frage beinhalten, wie die neue Welt auf die Forderungen der Arbeiterklasse reagieren wird, zumindest auf die grundlegendsten Bedürfnisse. Die Menschen müssen ein würdiges Einkommen und würdige Arbeitsbedingungen haben. In den 25 Jahren der wirtschaftlichen Prosperität, als all die transnationalen Unternehmen Superprofite aus Russland abzogen, während die Löhne der russischen Arbeiterinnen und Arbeiter miserabel blieben, hat sich eine grosse Schicht gebildet, für die der Krieg die einzige Möglichkeit geworden ist, ein angemessenes Einkommen zu erzielen. Und wenn wir nicht wollen, dass sich dies wiederholt, müssen wir erkennen, dass Demokratie und Frieden ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen sind. Diese drei Elemente können nicht isoliert voneinander existieren.

Was es für einen nachhaltigen Frieden braucht

Dies sind die wichtigsten Schlussfolgerungen, die wir aus den äusserst bitteren Erfahrungen ziehen können, die wir in diesen 25 Jahren unter Putin und diesen zehn Jahren Krieg zwischen Russland und der Ukraine gemacht haben. Einem Krieg übrigens, der auch innerhalb der russischen Gesellschaft tobt – zwischen jenen, die sich dem Krieg widersetzen, und jenen, die ihn benutzen, um ihre chauvinistisch-kleptokratische Macht zu erhalten.
 
Paradoxerweise werden diese chauvinistischen Gefühle nun angeheizt, da die Kriegsprofiteure unerwartete Unterstützung erhalten – vom Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Donald Trump hat die Gespräche über einen Waffenstillstand und Frieden erheblich beschleunigt. Aber was für ein Frieden kann das sein? Wie nachhaltig kann er sein, wenn Russland nicht auf den demokratischen Entwicklungspfad zurückkehrt und das seit zehn Jahren laufende Programm zur Zerstörung der Zivilgesellschaft nicht zurückgespult wird? Wenn wir die unabhängigen Gerichte und unabhängigen Medien nicht zurückholen? Wenn wir Memorial nicht nach Russland zurückbringen? Wenn – und das ist das Wichtigste – Tausende von politischen Gefangenen in Russland und Belarus nicht freigelassen werden?
 
Wir wissen, dass die ukrainische Gesellschaft eine eigene Perspektive und ein eigenes Verständnis von einem gerechten Frieden hat. Aber ich möchte betonen, dass es noch ein weiteres zentrales Element gibt: Einen dauerhaften und gerechten Frieden in Europa wird es nicht geben, wenn in Russland und Belarus weiterhin Diktatoren regieren.

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