Nach all den Querelen
Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler: Jetzt rede ich!

Was würde Dutti wohl sagen? Kein anderer Firmengründer wird über seinen Tod hinaus so oft um seine Meinung gefragt. Auch work hat es getan. Wir haben Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler über die aktuelle Migros befragt und das Interview gleich selber geschrieben. Mit Zitaten aus seinem umfangreichen Nachlass. 

GOTTLIEB DUTTWEILER: «Wir spekulieren auf die Intelligenz der Hausfrau.» (Foto: Keystone)

work: Im September steigt auf dem Flugplatz Mollis GL die grosse Migros-Geburtstagsparty. 100 Jahre sind seit der Gründung  vergangen. Es soll das «grösste Fest für Mitarbeitende werden, das die Schweiz je gesehen hat». Freut Sie das Fest, das ja auch ein bisschen zu Ihren Ehren ist? 
Gottlieb Duttweiler: Gut und preiswert sollen sich unsere Mitarbeiter verpflegen können. Aber Alkohol und Tabak sind Familienfeinde. 

Das mag sein. Aber ein rauschendes Fest zu Ehren der Migros-Mitarbeitenden ist bestimmt ganz in Ihrem Sinne?
Wir haben uns gut amüsiert. Der Humor ist eine ganz wichtige Komponente unseres Erfolges – zweifellos!

So wie am 25.  Geburstag der Migros?
Am Montag, 28. August 1950, bleiben die Läden geschlossen und die Verkaufswagen fahren nicht, aus Anlass des 25jährigen Migros-Jubiläums. Der Park Im Grüene, Rüschlikon ist für das Personal reserviert, ohne das ihr nichts erreicht. Das möchte ich auch allen künftigen Migros-Leitern zurufen.

Der Migros geht es (noch immer) wunderbar, bei einem Jahresumsatz von 32 Milliarden Franken und eigenen Mitteln von 22 Milliarden Franken. 
Der Profit ist sozusagen ein Abfallprodukt einer richtigen Idee. Wir wollten nie verdienen, aber es war nicht zu verhindern. 

work-Original: Jetzt rede ich!

Duttweiler ist nicht die erste verstorbene Prominenz, mit der work ein Interview führt. Lesen Sie auch die Interviews mit:

Wladimir Iljitsch Lenin

Trotzdem baut ihr aktueller Nachfolger Mario Irminger die Migros massiv um. Auf dem Buckel der Mitarbeitenden. Der Umbau hat bereits Hunderte von Stellen gekostet. Was sagen Sie dazu?
Anstatt den Franken stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt. Nur eine Umstellung im Denken der Privatwirtschaft, nur der bewusste Wille, das private Gewinnstreben so zu lenken, dass es gleichzeitig dem Gemeinwohl dient, kann auch eine Lösung in die neue Richtung bringen.

Das klingt wunderbar und war vielleicht mal Ihre Idee, aber das sieht heute etwas anders aus. Sogar Schwangere wurden entlassen.
Berufstätige Mütter können ruhig sein. In unserem betriebseigenen Kindergarten sind ihre Kleinen gut aufgehoben und werden von diplomierten Kinderschwestern liebevoll betreut. Ein Stündchen Schlaf gehört natürlich auch dazu. Und für die Grossen wenigstens ein Viertelstündchen.

Ja schon, aber die Migros hat diese Frauen auf die Strasse gestellt!
In guten Zeiten wird man übermütig. Dann macht man die grössten Dummheiten.

Auch bei Migros Online machte die Migros jüngst negative Schlagzeilen. Sie entliess Mitarbeitende, die durch die Arbeit bei der Migros krank geworden waren. Migros-Kinder behaupten nun, Sie würden sich ob so viel Ungerechtigkeit im Grab umdrehen. 
Das arbeitslose Einkommen kann man am besten und einfachsten dadurch bekämpfen, dass man die Bezüger der arbeitslosen Einkommen nicht mehr grüsst. Das erträgt auf die Dauer keiner.

Das kommt jetzt etwas überraschend! Bei Menschen auf Arbeitssuche scheint Ihre soziale Ader an Grenzen zu kommen.
Die Langeweile auf der Welt ist die grösste Sünde. 

Die Migros war und ist kein gewöhnliches Unternehmen. Heute ist sie die grösste Arbeitgeberin der Schweiz, das geht einher mit einer grossen sozialen Verantwortung. Doch unter dem Einfluss des US-Beratungsunternehmens McKinsey stehen die Zeichen auf «Restrukturierung». Stellt die Migros heute den Profit über die Prinzipien?
Am schlimmsten ist das böse Beispiel von oben. Wer soll im kleinen Disziplin halten, wenn im grossen ungestraft gefrevelt werden darf? Wir dürfen hoffen, dass wir den kurzsichtigen Geldmächten am meisten wehren und eine gerechtere Verteilung vom Überfluss der Welt hinbringen.

Gottlieb Duttweiler (1888 – 1962) 

Dutti wurde am 15. August 1888 in Zürich geboren. Der Vater war im Detailhandel tätig, damals beim Verband schweizerischer Konsumvereine, einem Vorgänger von Coop. Nach seiner kaufmännischen Lehre wanderte er mit seiner Frau Adele nach Brasilien aus. Dort versuchte er sich als Farmer. Doch seine Frau erkrankte, und so kam er nach einem Jahr zurück in die Schweiz. 1925 gründete er die Migros. Er kaufte Ware direkt vom Händler und verkaufte 
sie zu billigen Preisen erst mit Verkaufswägen direkt an die Kundschaft, später in Supermärkten. Im September 1935 ging Duttweiler mit der Partei «Landesring der Unabhängigen» in die Politik. Er sass über zehn Jahre im Nationalrat und später einige Jahre im Zürcher Kantonsrat. (dak)

Für die gerechte Verteilung des Geldes setzen sich insbesondere auch die Gewerkschaften ein. Herr Duttweiler, wie haben Sie’s mit der Unia?
Die Freiheit, irgendeiner Koalition beizutreten oder ihr fernzubleiben, muss unter allen Umständen gewährleistet bleiben.

Ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger sind da nicht immer ganz gleicher Meinung.
Der Mut, seinen Vorgesetzten die Wahrheit zu sagen, lohnt sich, wenn nicht heute, so ganz sicher morgen.

In Ihren Anfängen setzte die Migros auf die Hausfrauen als Hauptkundinnen. Wie konnten Sie die Frauen für Ihre Migros gewinnen?
Wir spekulieren auf die Intelligenz der Hausfrau. Weil das Geld mangelte, ging ich eben direkt auf das Ziel los: der Hausfrau die Ware mit einem Wagen nahezubringen. So hat die Migros angefangen.

Und dann?
Wir versuchten den Angriff auf die Hausfrau über das Herz. Die Frau muss sich wohl fühlen im Laden, dann öffnet sich auch das Portemonnaie.

Mitten im Zweiten Weltkrieg, 1941, überführten Sie die Migros AG werbewirksam in eine Genossenschaft.
Ich hatte das Versprechen gemacht, den Leuten zu dienen. (…) Und wenn Sie sich vom Geld befreien, dann sind Sie wahrhaftig frei! Und dann haben Sie auch Spass.

Aber ganz vom Geld befreit haben Sie sich nicht, oder?
Ich habe noch ein Milliönchen auf der Seite. Aber das habe ich mir auch verdient.

EINER DER GRUNDSÄTZE VON DUTTI: «Anstatt den Franken stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt.» (Foto: Gottlieb Duttweiler Institute)

Alle Antworten sind Zitate aus diesen Quellen: Dutti der Riese, 15 Thesen von Duttweiler und Newspaperarchiv «Wir Brückenbauer»

100 Jahre Migros: Die Chronologie

1925: Gründung
Die ersten fünf Verkaufswagen der Migros AG fahren aus. Die Fahrzeuge der Marke Ford T bedienen 178 Haltestellen in der Stadt Zürich während ­jeweils zehn Minuten. 

1926: Erstes Verkaufslokal
Der erste Laden liegt mitten im Zürcher Industriequartier, an der Ausstellungsstrasse 104. Das Gebäude ist das neue Hauptquartier der Migros. Es beherbergt neben dem Verkaufslokal auch ein Büro, eine Garage für die Verkaufswagen sowie ein Warenlager und eine Abpackerei im Keller.

1927: Streik bei der Migros
Am 3. März 1927 bleiben die Verkaufswagen im Depot stehen. Streik! Die Chauffeure verlangen mehr Lohn. Die Migros lehnt jede Verhandlung ab und droht, sie werde jeden entlassen, der nicht innerhalb einer halben Stunde an die Arbeit zurückkehre. Duttweiler will den festen Lohn der Chauffeure durch ein Provisionssystem ersetzen. Die Gewerkschaft VHTL verlangt ein Fixum von 340 Franken plus Provision sowie eine Verkürzung der Arbeitszeit. Schliesslich stimmt die Migros den Forderungen der Streikenden zu und reduziert die ­Arbeitszeit auf 56 Wochenstunden.

1928: Erster Produktionsbetrieb
Die Alkoholfreie Weine & Konservenfabrik Meilen AG ist der erste Produktionsbetrieb der jungen Migros AG. Duttweiler kauft sie als Antwort auf die Lebensmittel­fabrikanten, die ihn boykottieren. 

1935: Gründung Hotelplan
Der Reiseanbieter soll den Tourismus in der Schweiz ankurbeln, Arbeitsplätze retten und Ferienangebote für Menschen mit schmalem Budget schaffen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges bricht das Geschäft des Reiseveranstalters Hotelplan völlig ein. Anstatt einen Teil der Angestellten zu entlassen, beschäftigt Gottlieb Duttweiler sie in anderen Migros-Betrieben.

1941: Von der Migros AG zur Genossenschaft
Duttweiler wandelt die ­Migros AG in eine Genossenschaft um. Ausgesuchte Genossenschaftsräte ver­treten die Regionen in der ­Delegiertenversammlung. Diese ist eine Art «Migros-Parlament». Auch die Frauen können vollwertig mitwirken. Duttweiler hat in den Sta­tuten ­verankert, dass die ­Frauen die Mehrheit in den Genossenschaftsräten ­stellen müssen.

1942: Gründung «Wir Brückenbauer»
Duttweiler lanciert eine Zeitschrift «für unsere über 100’000 Genossenschafter». Im Mai 2004 wird der in die Jahre gekommene «Brückenbauer» vom «Migros-­Magazin» abgelöst.

1950: Dutti im See
Die wohl berühmteste Fotografie von Duttweiler zeigt ihn, wie er mit Hut im Zürichsee schwimmt. Entstanden ist sie am Tag, als er mit all seinen Angestellten den 25. Geburtstag der Migros feiert.

1952: Der erste Migros-Markt
Der erste Migros-Markt öffnet in Zürich seine Tore: mehr als 1000 Quadrat­meter Fläche auf zwei Stockwerken, 1200 Artikel, eine Metzgerei, ein Demonstrationsraum für Haushaltsapparate, eine Bücherecke von Ex Libris, eine eigene Bäckerei und die erste Imbissecke in der Geschichte der Migros. 

1958: Erste Einkaufswägeli
1958 kommt der erste Einkaufswagen in Basel an. Das Problem: Für die Wägeli braucht es mehr Ladenfläche. Doch die Investition in mehr Laden­fläche macht sich bezahlt, denn es zeigt sich schnell, dass Kundinnen und Kunden deutlich mehr einkaufen, wenn sie ihre Einkäufe im ­Wägeli schieben können.

1976: Erste Frau wird Direktorin
Ab 1. Juli 1976 übernimmt ­Arina Kowner, bisher Beauftragte für Konsumentenfragen, die Direktion Kulturelles und Soziales im Genossenschaftsbund. Sie ist die erste Frau in der M-Gemeinschaft mit ­einem Direktorentitel.

1996: Lancierung M-Budget-Linie
Die Migros lanciert sechs Produkte des täglichen ­Bedarfs zu Tiefpreisen. 

1997: Einführung Cumulus-Karte
Mit dem Kundenloyalitätsprogramm Cumulus verfolgt die Migros zwei Ziele: Sie will treue Kunden belohnen und ihre persönlichen Einkaufs­daten sammeln. 

2004: Online-Handel
LeShop.ch und migros-shop.ch schliessen das erste gemeinsame Jahr mit einem Umsatz von 33 Millionen ab. Die Zahl der Erstkäufer ­verdoppelt sich auf 23’900. An Spitzentagen verlassen 140 Tonnen an Ware das ­Verteilzentrum. 

2007: Migros übernimmt Denner
Die Migros beschliesst, 70 Prozent der Denner AG zu übernehmen. 30 Prozent verbleiben im Besitz der Gaydoul ­Holding. 

2019: Übernahme Topwell-­Apotheken 
Die Medbase-Gruppe, die zur Migros gehört, übernimmt die Topwell Apotheken AG.

2021: Bezahlen per App
Kundinnen und Kunden können Produkte mit der Migros-App auf dem Smartphone scannen, bezahlen und den Laden direkt wieder verlassen. 

2023: Gründung Migros Supermarkt AG
Die Gremien der Migros-Gruppe stimmen der Gründung der ­Migros Supermarkt AG (MSM) zu. Dies ist der Auftakt zum grössten Abbau in der Migros-Geschichte.

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