Sie hat genug vom «schikanösen Geschäftsmodell»
Nach jahrelanger Treue: Frau Gafner kehrt der Migros den Rücken

Die Enthüllungen um die miesen Arbeitsbedingungen bei Migros Online haben Spuren hinterlassen. Auch bei Christine Gafner (83). Die Rentnerin fühlte sich der Migros immer verbunden, doch jetzt ist Schluss!

NICHT MIT IHR: Christine Gafner konsumierte ein Leben lang nur Migros-Produkte, nun sucht sie sich einen neuen Laden. (Foto: Keystone / zvg, Montage: work)

Die Gehstöcke säuberlich plaziert und der warme Kaffee schon serviert – so trifft work Christine Gafner an einem frühlingshaften Nachmittag im Parc Café in Bern. Während Jugendliche die Minigolfsaison einläuten, sitzen Rentnerinnen in der wärmenden Sonne. Auch Gafner freut sich: endlich wieder Kaffee auswärts trinken. Statt nur zu Hause. Wegen ihrer Gehbehinderung ist Gafner nicht mehr oft zu Fuss unterwegs. Auch grössere Einkäufe erledigt sie online. Natürlich bei der Migros. 
 
«Da kenne ich die Produkte seit Ewigkeiten. Ich war sogar eine der ersten Kundinnen, die 2003 online einkauften», erinnert sich Gafner. Sogar das Migros-Magazin hat die Online-Pionierin interviewt. Doch mit Migros Online ist jetzt Schluss! «Als ich in den Medien von den Zuständen bei Migros Online erfahren habe, war mir klar: Dieses schikanöse Geschäftsmodell will ich nicht unterstützen» (work berichtete).
 
Als Rückengeschädigte fühlt sie mit den kranken, entlassenen Migros-Mitarbeitenden mit. Arbeit dürfe nicht krank machen. Doch die Trennung fällt ihr nicht leicht:

Man muss sich vorstellen: Ich habe über 80 Jahre lang fast nur Produkte aus der Migros konsumiert. Das ist eine grosse Umstellung. Schon nur beim Birchermüesli muss ich herausfinden, welches meinem Favoriten aus der Migros am nächsten kommt.

Eine wahre M-Familie

Gafner ist, seit sie denken kann, ein Migros-Kind. Sie stammt aus einer eingefleischten M-Familie. Mit zwei Jahren erhielt sie bereits einen Ausweis als Migros-Genossenschafterin. Alles begann, als ihr Vater während des Zweiten Weltkrieges eine Stelle als Elektriker bei der Migros erhielt. Mit dieser Anstellung fand er direkt nach dem Aktivdienst eine gute Arbeit. Die Stelle bei der Migros war die Rettung, und die Familie empfand enorme Dankbarkeit. Die 83jährige erinnert sich:

Damals wurde man als Migros-Kundschaft verpönt und gesellschaftlich ausgegrenzt. Man durfte nicht zu laut sagen, dass man bei der Migros einkauft.

Doch das hielt die Familie nie davon ab, der Migros treu zu bleiben. Im Gegenteil!
 
Wenige Zeit später folgte auch die Mutter, die eigentlich gelernte Coiffeuse war, zum Arbeitgeber Migros und arbeitete im Laden. Bekannt war die Migros damals als Selbstbedienungsladen, eine absolute Neuigkeit in der Schweiz. Zu günstigen Preisen konnte man sich selbständig mit Früchten, Gemüse, Teigwaren, Konserven und weiteren Lebensmitteln eindecken und an der Kasse bezahlen. Einzigartig! Und schliesslich folgte auch die angehende Lehrerin den Eltern in die Migros-Filiale: «Während meiner Ferien arbeitete ich als Hilfsangestellte bei der Migros am Früchtestand. Pro Stunde habe ich 2.80 Franken verdient», sagt Gafner.

«Was würde Dutti dazu sagen?»

Nicht nur die Migros-Lebensmittel waren in Gafners Familie fester Bestandteil, sondern auch die Idee vom «sozialen Kapital» von Migros-Gründer Gottlieb «Dutti» Duttweiler. «Dutti war für viele ein Vorbild, seine Ideen waren sozial und teilweise revolutionär. Beim Volk war er beliebt, weil er uns das Leben mit günstigen Lebensmitteln erleichterte. Doch im Bundeshaus war er kein beliebter Politiker», so Gafner.

Gewerkschafterin und Feministin

Christine Gafner (83) lebt in Bern und ist mittlerweile Urgrossmutter. Als junge Frau entschied sie sich für den Lehrerinnenberuf und ist seit über 50 Jahren Gewerkschaftsmitglied beim VPOD. Während ihrer Ausbildungszeit arbeitete sie am Früchtestand der Migros. Als Lehrerin arbeitete sie drei Jahre. Bis zu ihrer Pensionierung 2007 war sie unter anderem als Zentralsekretärin für die SP und als Nationale Pressekorrespondentin des Europarates für die Schweiz tätig. Zudem war Gafner Teil des Frauenbundes und setzte sich aktiv für das Frauenstimmrecht ein, bis dieses 1971 eingeführt wurde. 

Als Nationalrat reichte Duttweiler 1948 eine Motion zur Nahrungssicherung ein. Diese wurde aber auf die lange Bank geschoben. Aus Zeichen des Protests warf Dutti daraufhin Steine aus dem Bundeshaus. Das kaputte Fenster sorgte für Schlagzeilen und Aufsehen. Gafner:

Obwohl ich damals noch ein kleines Mädchen war, erinnere ich mich sehr genau daran. Im Stillen und zu Hause haben wir die Aktion von Dutti gefeiert, öffentlich musste man sich aber empört zeigen.

Duttis soziales Engagement zeigte sich für Gafners Familie ganz real. Ihr Vater litt wegen eines Unfalls mit Schwefelsäure an einer reduzierten Lungenfunktion. Während seiner Unfallzeit hat ihn die Migros unterstützt. Und nach der Genesung konnte er seine Arbeit nach und nach wiederaufnehmen und wurde fortan nur mit leichter Arbeit beschäftigt. «Das war für diese Zeit enorm vorbildlich!» sagt Gafner. Zudem zahlte die Migros für ihre Angestellten in die Pensionskasse ein, lange bevor dies Pflicht wurde. Umso enttäuschter ist Gafner jetzt davon, was sie in den Medien über die Zustände bei der Migros erfährt: «Was würde Dutti dazu sagen?»

Enttäuscht vom orangen Riesen

Gafner: «Ich habe bei der Migros nicht nur die Lebensmittel geschätzt. Auch die günstigen Sportartikel – gerade Ski – haben mir einiges ermöglicht. Oder die ganzen Bücher, die man so günstig kaufen konnte!» Kürzlich wollte Gafner im Migros-Restaurant Wankdorf BE einen Kaffee trinken, doch sie stand vor verschlossenen Türen. Sie sagt:

Ich erschrak, als ich, aus dem Lift kommend, das finstere, leere Restaurant vor mir sah.

Nicht nur für Berufstätige, die schnell und günstig am Mittag eine Verpflegung brauchten, war das Angebot beliebt. Sondern auch Pensionierte nutzten das Restaurant, um unter Menschen zu sein: «Meistens blieben sie anschliessend zu einem Schwatz. Bereicherung und Auftanken für das Leben.» Dann muss man sich eben neue Plätze für das Beisammensein suchen wie beispielsweise an einem sonnigen Nachmittag hier im Parc Café.
 

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