Ein stolzer Gewerkschafter
Peter Bichsel ist tot, aber seine Geschichten leben noch!

«Das isch nümme mini Schwiz!»: Bichsel klönte gerne. Dabei war er ein wortmächtiger Kritiker der Schweiz. Ein treuer Linker. Und Gewerkschafter.

AM STAMMTISCH: Peter Bichsel anlässlich des 15. Geburtstags von work im Berner Volkshaus. (Foto: Daniel Rihs)

Als ich ihn das letzte Mal am Draht hatte, das war letzten Oktober, begrüsste er mich wie immer mit diesem solothurnisch-schleppenden «Tschaaaau» und wollte nicht über seine Gesundheit reden. Das Alter sei mühsam. Er gehe nur noch selten in die Beiz. Und schreiben? «Neinei, aues isch scho gschribe!» Dann sagte er: «Aber was wosch vomer?» 

Ich wollte wissen, ob Bichsel eigentlich immer noch Gewerkschafter sei und Unia-Mitglied. Weil, wie er es geworden ist, das hat er mal so erzählt:

Der VPOD wollte mich unbedingt als Mitglied werben, aber denen sagte ich, ich gehe zur Gewerkschaft Bau und Holz. Das war vor mehr als fünfzig Jahren! Da fragten sie ungläubig, was ich denn bei den Bauarbeitern wolle als Schriftsteller. Und ich sagte: Das ist die einzige Gewerkschaft, die Gelegenheitsarbeiter aufnimmt.

Wir lachten damals zusammen, und das taten wir auch jetzt. Peter musste wieder ein bisschen lachen ab seinem Witz. Nicht laut, nicht lange, nur ein heiteres Einschnaufen. Dann sagte er: «Klar!» Die Unia-Mitgliedschaft sei die einzige Mitgliedschaft, auf die er bis heute stolz sei. Und schob nach:

Was haben wir 68 doch über die Gewerkschaften am rechten Rand der SP geflucht! Und jetzt sind wir übriggebliebene Linke alle froh, dass es wenigstens noch die Gewerkschaften gibt.

Nümme mini Schwiz!

Wir übriggebliebene Linke: Ja, der Schriftsteller und Poet Peter Bichsel hat sich als Linker verstanden. Als Übriggebliebener sowieso, er war ein Pessimist. Immer ging grad alles den Bach runter: das Gute, die Gerechtigkeit, die Sozis, das, «was wir einmal wollten» – und auch die Schweiz: «Das isch nümme mini Schwiz!» Bichsel klönte und jammerte gerne mit seiner Jammerstimme. Dabei war er luzid und wortmächtig, ein angriffiger Kritiker der Schweiz. Des Schweizers Schweiz. 

Im November 2011 besuchte ich Bichsel für ein Interview zur SVP-Ausschaffungsinitiative in seiner Solothurner Schreibstube und staunte nicht schlecht. Seine Sätze kamen bewundernswert dicht und auf den Punkt, wie gedruckt und fein ziseliert, seine Analysen hämmerten. Seinen Redefluss zog Bichsel zwei Stunden lang durch, und kein Hämmerchen fand Platz dazwischen. Er sagte:

Die Schweiz hatte bereits ein Ausländerproblem, bevor sie Ausländer hatte. Nur zwei liberale Aargauer Gemeinden nahmen Schweizerinnen und Schweizer jüdischer Konfession auf. Damals waren sie die Ausländer, vor denen man sich fürchtete.

Und schon waren wir mitten in diesem Patrioten-und-Blocher-Zeug. Bichsel: «Die Schweiz funktioniert offensichtlich nur dann, wenn sie Feinde hat. Feindbilder.» Das seien die Nachwehen der Schweizer Kriegsgeschichte:

Morgarten und Sempach und Grandson. Ein tapferes kleines Volk hat sich gewehrt gegen ganz Europa und hat überlebt. So der Geschichtsunterricht. Wir leben immer noch in dieser Kriegsgeschichte. Uns gibt es nur, wenn wir gefährdet sind. Die Schweiz will bedroht sein!

Wow, dachte ich, jetzt richtet der Bichsel aber dick an! Doch es kam noch dicker.

Ein kleiner Faschist

Das ständige Sich-bedroht-Fühlen sei das andere Ende der Überhöhung der Schweiz, des Patriotismus. Auch er sei als Bub in der Schule patriotisch indoktriniert worden: Die Schweiz habe die schönsten Berge und die beste Schokolade usw. Und alle Ausländerinnen und Ausländer wollten nur das eine: in die Schweiz kommen und profitieren! 

Minderwertigkeit und Überheblichkeit: «Patriotismus ist ein Verbrechen», sagte Bichsel. Auch er möge Cervelats und freue sich, wenn unsere Nati gewinne. Doch die Gefühle der Leute, ihr Stolz, ihre Freude könnten ausgenützt werden. Propagandistisch ausgenützt werden. Und da werde es brutal. Bichsel:

Die SVP nützt die Gefühle der Leute kalt und zynisch aus. Stichwort Ausländerhetze: Ein ganzes Volk wird da verhetzt. Die Angst vor dem Fremden sitzt tief in uns allen drin. In unseren Herzen wohnt ein kleiner Faschist.

Ein kleiner Faschist? Ja, sagte Bichsel, ohne zu zögern: Ausgrenzung, Abschottung, Ausschaffung – Blocher und seine SVP seien im Begriff nach der ganzen Macht zu greifen. Das mache ihm schon Angst. Und auch dieses typische Schweizer Denken, dass Faschismus überall passieren könne, nur nicht in der Schweiz. Dabei sei gerade durch die SVP unsere Demokratie gefährdet. Das alles sagte Bichsel Jahre vor Trump, Meloni & Co.

Geschichten gegen das Ende

Das ist der eine Bichsel, der Intellektuelle und der Aufklärer Bichsel. Dann gibt’s da noch den anderen: den grossen Erzähler Bichsel, den Geschichten-Erzähler-Bichsel, den Stammtisch-Geschichten-Erzähler-Bichsel. Keiner konnte so erzählen wie er: einfach und komplex zugleich, so leicht und gleichzeitig tonnenschwer. Ein Wort führt zum anderen, zum Himmel, zur Hölle und zurück: Bichsel interessierte, «was auf dem Papier geschieht», die menschliche Sprache. 

«Ein Tisch ist ein Tisch»: Ein alter Mann betrachtet in dieser Bichsel-Geschichte von 1969 seine Möbel und fragt sich, warum der Tisch eigentlich Tisch heisst, warum der Stuhl Stuhl hiess, warum die Zeitung Zeitung heisst. Und er gibt den Dingen neue Namen: Den Tisch nennt er Teppich, den Stuhl nennt er Wecker, die Zeitung nennt er Bett. Das Spiel lässt den alten Mann seine Einsamkeit vergessen. Doch es endet traurig: Der Mann vergisst, wie die Dinge richtig heissen, und geht er nach draussen, versteht ihn niemand mehr. Der Ausgang seiner Geschichten überrasche ihn oft selber, sagte Bichsel einst.

Als work 15jährig wurde, organisierte die Unia-Zeitung einen Stammtisch mit Büezerinnen und Büezern, Gewerkschafts- und Linken-Prominenz. Da kam auch Peter Bichsel ins Berner Volkshaus. Und erzählte:

Früher sei so ein Stammtisch noch was gewesen. Einer habe etwas behauptet, und ein zweiter habe gesagt, das stimme nicht. Darauf hätten die anderen am Tisch diskutiert, was für die Behauptung des einen und was für jene des anderen spreche. Und schon hätten sie einander die wildesten Geschichten erzählt. Heute sei das leider nicht mehr möglich: wegen Google! Da werde immer alles grad gegoogelt: Und ade, wilde Geschichten! 

Geschichten erzählen habe mit dem Ende zu tun, schrieb Bichsel mal in einer seiner Kolumnen in der «Schweizer Illustrierten»: «Solange wir erzählen, bleibt alles rund, bleibt alles Wiederholung, das Runde hat kein Ende. Erzählen ist letztlich das Aufbäumen gegen jenes Ende, das uns allen sicher ist. Und sich verabschieden ist der Entscheid, die Runde, das Runde zu verlassen und geradeaus zu gehen, geradeaus nach Hause, geradeaus nach Amerika.» Darum würden Kinder, wenn wir ihnen eine Geschichte erzählten, immer sagen: Bitte noch einmal und dann noch einmal! 

Jetzt ist Peter Bichsel geradeaus nach Amerika, aber seine wunderbaren Geschichten bleiben, wenn wir sie weitererzählen. Noch einmal und dann noch einmal!

Von zwei ewigen Kindsköpfen

Nina Seiler

«Ich kannte Peter Bichsel von klein auf als den ‹Bichselpeter›. Der eigensinnige Schalk mit der charmant näselnden Stimme war als enger Freund meines Vaters Alexander J. Seiler (1928 bis 2018) oft bei uns auf Besuch. Sehr viele Erwachsene waren damals bei uns zu Gast, doch er war mir besonders nah. Wir teilten die Leidenschaft für das Erfinden und Erzählen von Geschichten. 

In jener Zeit diktierte ich meinem Vater selbsterfundene Geschichten in die Schreibmaschine, später begann ich selbst in die Tasten zu hämmern – Märchen und dadaistische Kurztexte. Die Erwachsenen – darunter auch Peter – zeigten sich begeistert, was mich anstachelte, immer neue A4-Blätter zu füllen. Bald bekam ich eine eigene Hermes Baby geschenkt.

Und so kam es, dass an einem Oktobertag im Jahre 1971 Peter Bichsel und ich auf meiner Schreibmaschine zusammen eine Geschichte schrieben. Ich machte den Anfang, er spann den Faden weiter, dann war ich wieder dran. Er sabotierte auf charmanteste Art meine Versuche, der absurden Geschichte doch noch eine logische Wendung zu geben. Das störte mich nicht, denn ich spürte, dass er mich ernst nahm. Ich war neun Jahre alt. 

Später kam mir die kindliche Erzähllust abhanden, dafür hatte ich eine Schreibblockade. Als ich ihn um Rat fragte, sagte er, ich solle ‹für den Papierkorb schreiben›.

Das letzte Mal traf ich ihn an der Beisetzung meines Vaters. Beim Apéro danach wechselten wir auf der Raucherterrasse ein paar Worte; ich faselte etwas über das Akzeptieren der eigenen Mittelmässigkeit und freute mich, dass er mir beizupflichten schien. Er war an diesem Tag bestens gelaunt, geradezu in Hochform. 

Die immerwährende Vertrautheit zwischen uns rührte möglicherweise daher, dass wir beide ewige Kindsköpfe waren, auch als Erwachsene.

Ciao Peter, Du liebenswerter, eitler, gescheiter Kindskopf. Ich hoffe, sie haben guten Hauswein im Jenseits.»

Info: Nina Seiler ist seit 2006 Layouterin bei work.

ERINNERUNG: Signiertes Buch von Peter Bichsel. (Foto: ns)

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