Neue Studie über Ungleichheit und Sterberisiko
Sterben müssen wir alle –Reiche aber später

Je kleiner der Lohn, desto ­früher der Tod. Das zeigt eine neue Studie des ­Bundesamtes für Sozialversicherung. Und: ­Arbeitslosigkeit und ­Kurzarbeit erhöhen die ­Sterblichkeit, weil sie das ­Einkommen um mindestens 20 Prozent sinken lassen.

REICH SEIN VERLÄNGERT DAS LEBEN: Wie die neue Schweizer Studie zeigt, haben Menschen mit viel Geld ein massiv geringeres Sterberisiko als Büezerinnen und Büezer aus dem Tieflohnsektor. (Foto: Getty Images)

«Wer heiratet, lebt länger.» Solche und andere Schlagzeilen geisterten in den vergangenen Tagen durch die Medien und sorgten in der Kaffeepause und an den Stammtischen für Gesprächsstoff. Sie beziehen sich auf eine Studie der Universität Genf mit dem Titel «Mortalité différentielle en Suisse 2011–2022», die hier heruntergeladen werden kann. Verfasst wurde sie im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) und von diesem unter dem vergnüglichen Heiratsansatz der Öffentlichkeit «verkauft». Lustig, lustig, tralalalala!

Weniger lustig sind andere Erkenntnisse aus der Studie, die – warum auch immer – sowohl in der BSV-Medienarbeit wie in den Medien untergegangen sind. Sie haben mit der sozialen Ungleichheit zu tun:

  1. Je höher das Einkommen, desto länger das Leben. ­Die Studie untersuchte die AHV-pflichtigen Einkommen der Schweiz. Die Analyse zeigt, «nahezu sys­tematisch», für alle ­Altersgruppen und Geschlechter den ­Zusammenhang zwischen der Höhe des Erwerbseinkommens und dem Sterberisiko. Menschen ohne oder mit sehr niedrigem Einkommen haben ein bis zu dreifach erhöhtes Sterberisiko. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt bei bestimmten Todesursachen wie Infektionskrankheiten, psychischen Störungen und Atemwegserkrankungen, wo das Risiko ­sogar um das Fünf- bis Sechsfache erhöht sein kann.
  2. Büezer sterben früh, Büezerinnen ein bisschen weniger früh. Die Studie zeigt, dass Personen in Führungspositionen oder akademischen Berufen ein deutlich geringeres Sterberisiko aufweisen als andere Berufsgruppen. Handwerker und ungelernte Arbeiter weisen die höchste Sterblichkeit auf. Laut Studie haben Männer mit Handwerks- und Elementarberufen ein um 40 bis 70 Prozent höheres Sterberisiko als Führungskräfte und Akademiker. So sterben konkret zum Beispiel Männer zwischen 50 und 59 Jahren in ausführenden Tätigkeiten mit einer um 50 bis 60 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit als Männer in leitenden Funktionen. Diese Übersterblichkeit ist besonders ausgeprägt bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmten Krebsarten, was auf härtere Arbeitsbedingungen und risikobehaftetere Tätigkeiten zurückzuführen ist. Bei Frauen sind die berufsbedingten Unterschiede geringer und statistisch oft nicht aussagekräftig, während bei Männern klare Unterschiede zwischen verschiedenen Berufsgruppen bestehen. Leider sind diese nicht detailliert untersucht worden.
  3. Arbeitslosigkeit erhöht das Sterberisiko massiv. In der wissenschaftlichen Sprache der Studie: «Die Erfahrung einer Arbeitslosigkeitsepisode geht mit einem erhöhten Sterberisiko einher, systematisch in jedem Alter und für beide Geschlechter.» Bei Männern steigt das Risiko um 50 bis 60 Prozent. Bei Frauen beträgt die Risikoerhöhung 10 bis 60 Prozent.
  4. Bei einer Einkommenskürzung um 20 Prozent und mehr, steigt das Sterberisiko deutlich. Menschen, deren Einkommen um mindestens 20 Prozent gesunken ist, weisen ein deutlich erhöhtes Sterberisiko auf. Bei Männern ist der Zusammenhang in jedem Erwerbs­alter besonders ausgeprägt. Negative Wirkungen von Arbeitslosigkeit bleiben auch nach Wiederbeschäf­tigung bestehen. Dieser Zusammenhang zwischen 20 Prozent weniger Lohn und der höheren Sterblichkeit ist darum besonders brisant, weil sowohl bei ­Arbeitslosigkeit als auch bei Kurzarbeit das Einkommen um (mindestens) 20 Prozent sinkt.

Die Gewerkschaften wissen es schon lange: Menschen mit geringen und mittleren Einkommen haben weniger Lebensjahre nach dem ordentlichen Pensionierungsalter von 65 Jahren, und sie haben tiefere Renten.

Die Gut- bis Superverdienenden dagegen werden nicht nur bei besserer Gesundheit und höherer Lebenserwartung pensioniert. Sie können es sich ausserdem auch leisten, wesentlich vor dem ordentlichen Rentenalter in Pension zu gehen. In der Finanzindustrie zum Beispiel lag das durchschnitt­liche Rentenalter in den Jahren 2016 bis 2020 bei 62,8 Jahren – und wie es mit Durchschnitten so ist: hier sind die Daten der Herren Investmentbanker genauso eingeflossen wie die der Frau am Bankschalter. Also ausgerechnet von der Branche, die mit viel Geld Parteien und Initiativen unterstützt, die das Rentenalter weiter anheben wollen.

Was ist jetzt mit dem Heiraten?

Und wie ist das jetzt mit dem Zivilstand, mit dem das BSV auf dankbare Redaktionen stiess? So: Verheiratete leben im Vergleich zu Ledigen im Durchschnitt bis zu sechs Jahre länger. Männer profitieren mehr von einer Heirat als Frauen. Die Ehe für alle hat die Schweiz nach langem Hin und Her endlich eingeführt. Und das ist gut so. Von Löhnen und Renten zum Leben für alle sind wir noch weit entfernt. Und das bleibt ein Skandal für Ledige, Liierte, im Konkubinat Lebende und Verheiratete.


Trotz besserer Medizin Keine Fortschritte

Die neue Studie im Auftrag des Bundesamtes für Sozialver­sicherungen untersucht Daten aus den letzten drei Jahrzehnten. In diesen hat sich der ­Unterschied in der Lebens­erwartung zwischen den Klassen nicht ­verringert, obwohl die Lebenserwartung allgemein gestiegen ist. Während der Coronapandemie hat er sich tendenziell ­sogar noch vergrössert: ­Menschen mit kleinsten und kleinen Einkommen starben überdurchschnittlich oft an den Folgen einer Covid-Erkrankung. Sie waren bei der Arbeit einem grösseren Ansteckungsrisiko ausgesetzt, hatten schlechteren Zugang zu medizinischer Be­treuung und lebten in ­beengten Wohnverhältnissen.

In der Krise

Die Studie bestätigt, was work schon vor fünf Jahren schrieb: Das Corona­virus macht medizinisch keinen ­Unterschied zwischen den ­Klassen. Aber die soziale Lage der Klassen bestimmt, wie ­die Menschen durch die Krise ­kommen: gesundheitlich und ökonomisch (work berichtete).

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