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Pflegehelferin Michaela Sparr (39): «Wenn jüngere Menschen sterben, geht mir das nahe»

Ein grosses Herz und eine ­«Berliner Schnauze»: Michaela Sparr ­begleitet
auf einer Palliativabteilung ­sterbende Menschen. In die Pflege wechselte die gelernte Köchin während der Coronapandemie.

MICHAELA SPARR (39): Im Einsatz für schwerkranke Menschen (Foto: Matthias Luggen)

Die meisten Menschen beschäftigen sich mit dem Tod erst dann, wenn ein Familienmitglied stirbt oder sie selbst schwer erkranken. Bis dahin ist Sterben etwas, das hinter verschlossenen, fremden Türen geschieht. Nicht für Michaela Sparr: Der Tod ist ihr täglicher Begleiter bei der Arbeit, mal willkommener Freund, mal erbitterter Feind.

Die 39jährige ist Pflegehelferin in der Palliativabteilung von Diaconis, einer Non-Profit-Organisation, die neben der Palliative-Care auch drei Pflegeheime und eine Seniorenresidenz im Kanton Bern betreibt. Die Palliativabteilung in der Stadt Bern bietet Platz für 15 Patientinnen und Patienten. Michaela Sparr hält ihre Hand, tröstet sie, hört ihnen zu. Manchmal weint sie auch mit ihnen – oder um sie, wenn sie gegangen sind. Dann zieht sie ihnen die zurechtgelegten Kleider für die letzte Reise an, verteilt Rosenblätter und persönliche Dinge auf Wunsch der Verstorbenen auf dem Bett, plaziert ein Räucherstäbchen im Zimmer und öffnet das Kippfenster, damit die Seele entweichen kann. Manchmal sterben bis zu fünf Patientinnen und Pa­tienten innerhalb von 24 Stunden. Wie halten Michaela Sparr und ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen das aus?

Mit Herz

Michaela Sparr hat zum Gespräch in ihre Wohnung in Münsingen eingeladen, wo sie mit ihrem Partner und dem gemeinsamen sechsjährigen Sohn lebt. Sie hat Gipfeli bereitgestellt und serviert Kaffee. Schon in den ersten Sekunden ist klar: diese Frau hat ein grosses Herz. Und sie trägt es auf der Zunge. Die gebürtige Berlinerin spricht wie ein Wasserfall, lacht oft, laut und schallend. Ihre «Berliner Schnauze» komme in der Schweiz nicht immer gut an, gesteht sie und lacht.

Zwischendurch muss ich auf den Mund sitzen, statt zu sagen, was ich gerade denke.

Aber meistens sagt sie, was sie denkt. Zum Beispiel dann, wenn die Angehörigen die sterbende Person belagern, weil sie sich alle noch verabschieden wollen. «Natürlich verstehe ich das», sagt die Pflegehelferin, «aber Sterbende brauchen zwischendurch einen Moment für sich allein.»

Michaela Sparr ist gelernte Köchin und arbeitete bis vor fünf Jahren in diesem Beruf. Dann kam Corona, Sparr verlor ihren Job im Berner Oberland. «Eine Freundin machte mich auf den Pflegehelfendenkurs des SRK aufmerksam.» Der Lehrgang des Schweizerischen Roten Kreuzes richtet sich an Quereinsteigende, besteht aus einem theoretischen Teil sowie einem Praxiseinsatz. In der Palliativabteilung von Diaconis ist pro Schicht eine Pflegehelferin eingeteilt. Diese unterstützt zum Beispiel die Diplomierten bei der medizinischen Betreuung, bereitet das Zimmer für Neueintritte vor, schöpft das Essen, kümmert sich um die Körper- oder Grundpflege und reinigt die medizinischen Geräte.

«Viele Sterbende wollen auch nicht über ihre Diagnose sprechen, aber oft über das Warum», sagt Michaela Sparr. Warum müssen ausgerechnet sie diese Krankheit haben? Michaela Sparr hört dann zu, spendet Trost. Und wird manchmal selbst wütend.

Gerade wenn jüngere Menschen sterbenskrank sind, ist das einfach ungerecht. Das geht mir dann schon nahe.

Dann wendet sie sich manchmal an die hauseigene Seelsorgerin, um sich die Belastung von der Seele zu reden, oder sie ruft ihre Mutter an, die ebenfalls in der Pflege arbeitet. «Es ist wichtig, das Erlebte irgendwo zu deponieren.»

Wenn jemand stirbt, setzt sich Michaela Sparr ans Bett, hält die Hand und wartet. Irgendwann setzt das typische Röcheln ein, ein letzter Blick geht zu den ­anwesenden Personen im Raum, der Körper erschlafft, Arme und Beine werden kalt. «Einige warten aber auch und sterben erst, wenn sie allein sind.» Von jedem Menschen, der auf der Abteilung verstirbt, verabschiedet sich Michaela Sparr. Wenn die verstorbene Person schon abgeholt wurde, geht sie noch kurz ins leere Zimmer und nimmt sich einen Moment.

Für mehr Zeit

Natürlich sei da viel Schweres, sagt Sparr, aber es sei auch befriedigend, einen Menschen zu begleiten, ihn noch ein letztes Mal zum Lachen zu bringen, für die Angehörigen da zu sein.

Da kommt wahnsinnig viel Dankbarkeit zurück, das ist das Schöne am Arbeiten in der Pflege und macht es für mich zum Traumberuf.

Weniger schön sei, dass wegen Personalmangels in vielen Institutionen für den einzelnen Menschen oft zu wenig Zeit bleibe. Deshalb setzt sie sich als Unia-Delegierte aktiv für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege ein. Und für eine angemessene Bezahlung: Michaela Sparr arbeitet 80 Prozent und verdient 3600 Franken brutto. Damit das Geld einigermassen reicht, leistet die junge Mutter zusätzlich noch Temporär­einsätze in der Gastronomie und als Pflegehilfe in anderen Einrichtungen.

Michaela Sparr ist sich sicher: In der Pflege will sie bleiben und sich weiterbilden an der Höheren Fachschule für Pflege. Und dann irgendwann in eine psychiatrische Abteilung wechseln. Denn: Ein Leben lang in der Palliativabteilung arbeiten will sie nicht. «Das geht mir zu sehr ans Herz.»


Michaela SparrVon Berlin nach Münsingen

Wenn Michaela Sparr freihat, verbringt sie den Tag am liebsten mit ihrem Sohn. «Wir gehen zusammen raus auf den Spielplatz, malen, puzzeln oder backen. Manchmal machen wir auch einen Ausflug mit dem Auto.» Auch Kochen sei für sie Erholung. Michaela Sparr wuchs in Berlin auf und lebt mit ihrem Partner seit einigen Jahren in der Schweiz, zuerst in Basel, dann im Berner Oberland und jetzt in Münsingen. Vom Balkon aus hat sie freie Sicht auf den Belpberg und die Alpen.

Exit

Die Arbeit in der Palliativabteilung hat Michaela Sparr dankbarer gemacht, wie sie erzählt. Und sie macht sich heute mehr Gedanken über ihren eigenen Tod als früher. Seit einiger Zeit ist sie Mitglied bei der Sterbehilfe­organisation Exit. «Wenn einmal gar nichts mehr geht, will ich selbstbestimmt sterben können.»

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