Die Schweiz hat ein Armuts-Problem
«Die Menschen müssen von ihrem Lohn leben und nicht nur knapp überleben können»

Aline Masé (38) ist Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik bei der Caritas Schweiz. Im Gespräch mit work erklärt sie, mit welchem Lohn man von Armut betroffen ist. Und warum Fleiss für Kinder kein Weg aus der Armut ist. 

ALINE MASÉ VON CARITAS: «Oft wird ein Kind aus armen Verhältnissen von gesellschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen und sozial isoliert.» (Foto: Yoshiko Kusano) 

work: Frau Masé, beginnen wir mit dem Wesentlichen: Ab welchem Einkommen gilt man in der Schweiz als arm? Und auf wie viele Menschen trifft das zu?
Aline Masé: Von Armut betroffen sind Personen mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum der Sozialhilfe. Für eine Einzelperson bedeutet das, mit weniger als 2284 Franken leben zu müssen. Für eine vierköpfige Familie liegt die Armutsgrenze bei einem totalen Einkommen von 4410 Franken. Das ist sehr wenig Geld und reicht kaum zum Leben, denn davon muss alles ausser die Krankenkassenprämie bezahlt werden: Wohnen, Essen, Kleider, Handyabonnement, Coiffeur und so weiter. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) leben rund 700’ 000 Menschen in der Schweiz in Armut. Doch aus Sicht von Caritas sind noch viel mehr Menschen von Armut betroffen.

Noch mehr?
Ja, fast doppelt so viele! Wir orientieren uns an der Armutsgefährdungsgrenze, die das BFS ebenfalls jährlich berechnet. Diese liegt für eine Einzelperson bei 2587 Franken und bei einer vierköpfigen Familie bei 5430 Franken. Total sind in der Schweiz 1,3 Millionen Menschen von Armut betroffen oder bedroht. Das heisst, fast jede sechste Person lebt in prekären finanziellen Verhältnissen. Dieser Wert macht mehr Sinn, weil er auch Menschen mitzählt, die knapp über dem Existenzminimum leben, aber trotzdem wegen ihres tiefen Einkommens kaum an der Gesellschaft teilhaben können. Ein einfaches Beispiel: Ein Kind wird von einem Schulfreund zum Geburtstagsfest eingeladen. Weil sich die Familie kein Geschenk leisten kann und sich dafür schämt, darf das Kind nicht ans Fest. So wird ein Kind aus armen Verhältnissen von gesellschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen und sozial isoliert.

20%…

… vom Lohn bezahlen die ärmsten Haushalte für Krankenkassenprämien. Von einer Prämienverbilligung profitieren davon nur knapp ein Drittel.

Trifft Armut also besonders die Kinder?
Kinder aus armutsbetroffenen oder -gefährdeten Familien erleben viel Benachteiligung. Das ist vielleicht sichtbar, wenn sie sich das Skilager oder die Tennisstunden nicht leisten können. Aber es gibt auch vieles, was unsichtbar bleibt. Das sind beispielsweise enge Wohnverhältnisse, in denen Kinder keinen Rückzugsort haben, wo sie in Ruhe ihre Hausaufgaben erledigen oder lernen können. Das sind Wohnhäuser, die an stark befahrenen Strassen liegen und ohne Grün- oder Spielfläche sind, wo Kinder sich austoben könnten. Dass diese Kinder nicht die gleichen Entwicklungschancen haben, erkennt man bereits im Kindergarten. Unser Schulsystem schafft es oft nicht, diese ungleichen Startchancen auszugleichen. 

Stimmt es nicht, dass diese Kinder in der Schule einfach fleissiger sein müssen und es so aus der Armut schaffen?
So einfach ist es leider nicht. Um aus der Armut der Eltern auszubrechen, reicht Fleiss meist nicht. Oft sind Lehrpersonen oder andere Bezugspersonen entscheidend, ob ein Kind aus armen Verhältnissen fair behandelt wird. Es gibt Studien, die klar belegen, dass Lehrpersonen Kinder aus besser gestellten Familien besser bewerten als arme Kinder – und das für die gleiche Leistung. Die finanziellen Ressourcen der Eltern spielen bei der Ausbildung von Kindern eine sehr grosse Rolle. Etwa können sie sich keine Nachhilfe leisten, wenn das Kind Schwierigkeiten in Mathematik hat. Und ob der soziale Anschluss der Kinder gelingt, beispielsweise für Sport, Musikunterricht, Ausflüge. Und um nochmals zum Thema Fleiss zurückzukommen: Kinder erleben auch Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft. Sie werden wegen ihres Namens oder ihrer Hautfarbe oder Herkunft auf ihrem Bildungsweg behindert. Arme migrantische Kinder erleben eine Doppeldiskriminierung, weil sie unterschätzt und kleingehalten werden, was den Weg aus der Armut nochmals zusätzlich erschwert. Egal, wie fleissig sie sind.

1,34 Millionen…

… Menschen sind in der Schweiz von Armut betroffen oder bedroht.

Aus was für Familien kommen diese Kinder?
Warum eine Familie in der Armut landet, kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Aus strukturellen Gründen haben Familien mit vielen Kindern, Familien mit sehr kleinen Kindern und Alleinerziehende ein hohes Armutsrisiko. Das hängt stark damit zusammen, dass Kinder kosten und die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit in der Schweiz gerade für Eltern in Tieflohnjobs immer noch sehr schwierig ist. Weiter ist auch die fehlende Bildung ein starker Treiber von Armut. Wer keine oder keine anerkannte Ausbildung hat, landet oft in prekären, sehr schlecht bezahlten Jobs. Und das wiederum betrifft viele Menschen, die in die Schweiz migrieren. Auch fehlende Sprachkenntnisse stellen enorme Hürden dar, weshalb die Aus- und Weiterbildung von Erwachsenen so wichtig ist. Schliesslich können auch Schicksalsschläge wie Krankheiten oder eine Scheidung Familien in finanzielle Schwierigkeiten bringen.

ALINE MASÉ: «Wer bereits in Armut aufwächst, hat ein viel höheres Risiko, im Erwachsenenalter auch in Armut zu leben.» (Foto: Yoshiko Kusano)

Stimmt es wirklich, dass Arbeitnehmende nicht von ihrem Lohn leben können?
In der Schweiz gibt es fast 300’000 Working Poor. Der Begriff bedeutet, dass man arbeitet und trotzdem arm ist. Bei der Caritas benutzen wir ihn, wenn mindestens eine Person im Haushalt ständig und zu einem relevanten Pensum erwerbstätig ist, es finanziell aber trotzdem nicht aufgeht. Aus unserer Erfahrung in der Beratung hat das Phänomen «Working Poor» zugenommen. Der Grund: In den letzten Jahren sind die Fixkosten – vor allem die Kranken-kassenprämien und Wohnungsmieten – massiv schneller gestiegen als die Bruttoeinkommen. Das sind Kosten, die man bezahlen muss – ob man kann oder nicht. Ein Beispiel: Eine finanzschwache Familie bewirbt sich für eine Wohnung, die 70 Prozent von ihrem Bruttoeinkommen ausmacht. Für diese Wohnung bekommt sie auch die Zusage. Das klingt absurd, ist aber Realität. Und gleichzeitig steigen die Krankenkassenprämien immer weiter. Um all diese Fixkosten bezahlen zu können, muss die Familie an anderen Orten sparen oder sich verschulden.

Bei 4410 Franken…

… liegt das Existenzminimum für eine vierköpfige Familie. Davon müssen die Miete, das Essen, Kleidung, Coiffeur und alles Weitere bezahlt werden. Die Kranken­kassenkosten werden nicht mitgezählt.

Und die Teuerung frisst die Löhne weg.
Die Teuerung ist auch ein entscheidendes Thema. Liegt diese in einem Jahr bei knapp 2 Prozent, klingt das für manche nach nicht viel. Doch für eine Person, die jeden Rappen ganz genau kalkuliert, macht es einen riesigen Unterschied, wenn das Brot nun 50 Rappen mehr kostet. Und auch wenn die Teuerung wieder etwas nachliess: Die Preise sind gestiegen und nach dem Anstieg nicht mehr zurückgegangen. Und sie steigen immer noch – einfach weniger stark. Auf der Ausgabenseite müsste man einkommensschwache Personen steuerlich entlasten. Statt tiefe und mittlere Einkommen so stark zu besteuern, müsste man die Vermögenssteuer erhöhen. Das wäre eine Massnahme, um auch die Schere zwischen Arm und Reich zu verkleinern.

Können Mindestlöhne da Gegensteuer geben? 
Mindestlöhne sind ein wichtiges Instrument. Einerseits aus einer Überzeugung, dass Arbeit gerecht entlöhnt werden muss. Und andererseits, weil sich Arbeit lohnen muss. Menschen, die 100 Prozent arbeiten, müssen von ihrem Lohn leben und nicht nur knapp überleben können. Für die Armutsbekämpfung sind Mindestlöhne eines von vielen Puzzleteilen. Dabei ist es aber entscheidend, ob ein Arbeitnehmer nur für sich selbst oder finanziell noch für weitere Personen verantwortlich ist. Wenn beispielsweise eine Person im Haushalt einen Mindestlohn erhält, davon aber drei Kinder abhängig sind, reicht das Geld wieder nicht. 

26,2%…

… der Alleinerziehenden sind von Armut betroffen. Zudem ist mehr als jede fünfte Familie mit drei oder mehr Kindern von Armut gefährdet. 

Was sind weitere Massnahmen, um Arbeiterinnen und Arbeiter vor Armut zu schützen?
Für uns als Caritas ist die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit ein zentrales Thema. Zum Beispiel das Thema Kinderbetreuung und Kitakosten. Um Familien zu entlasten und gerade Mütter vor einem Armutsrisiko zu schützen, braucht es zugängliche und bezahlbare Kitaplätze. Es kann nicht sein, dass Eltern abwägen müssen, ob ein Elternteil erwerbstätig sein soll oder nicht, wenn die Kitakosten einen ganzen Lohn auffressen. Man sieht deutlich, dass Familien mit tieferem Einkommen ihre Kinder weniger häufig extern betreuen lassen. So wird namentlich Müttern der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu einer finanziellen Unabhängigkeit verwehrt. Gerade für Mütter mit Migrationshintergrund gestaltet sich das noch schwieriger. Sie haben keine anerkannte Ausbildung in der Schweiz und können unter Umständen die Sprache nicht gut. Sich in einer solchen Ausgangslage um eine Stelle und gleichzeitig eine passende und zahlbare Kinderbetreuung zu kümmern, ist eine enorme Herausforderung. Und so hindert man strukturell diese Frauen am Arbeiten und bringt nebenbei die Kinder um eine wichtige Sozialisierungserfahrung. Aber auch das Thema Arbeitsmodelle ist sehr wichtig. Es gibt viele Arbeitnehmende, die auf Abruf arbeiten. Sie müssen zwar 100 Prozent verfügbar sein, arbeiten je nach Monat aber nur 30, 50 oder 70 Prozent. Das Einkommen und damit auch die Ausgaben sind nicht planbar. Gerade für Familien sind solche Arbeitsmodelle sehr risikobehaftet. 

Und was ist mit dem Alter? Ist das nicht auch ein Treiber von Armut?
Natürlich gibt es in der Schweiz auch Altersarmut. Aber dabei ist es wichtig, nicht nur das Einkommen der Rentnerinnen und Rentner zu berücksichtigen, sondern auch ihr Vermögen. Die Armutsstatistik des Bundes, die nur die Einkommen berücksichtigt, ist kein guter Indikator für das Alter. Wir fordern schon lange eine kantonale Armutsbeobachtung auf Basis von Steuerdaten. Diese würden die finanzielle Situation der Haushalte viel besser abbilden. Aber zurück zum Alter: Das Alter allein ist kein Armutsrisiko. Im Alter geht die Schere aber stark auseinander. Jene, die im Erwerbsalter schon wenig Geld hatten, haben auch im Alter wenig Geld. Und jene, die bereits im Erwerbsalter viel Geld hatten, haben im Alter noch mehr. Deshalb fokussieren wir bei der Caritas auf das Erwerbsalter.

Für 300’ 000…

… Arbeiterinnen und Arbeiter reicht der Lohn nicht zum Leben. Zählt man alle ­Personen im Haushalt ­zusammen, also Kinder und Partner, sind 700 ’000 Menschen vom Phänomen «Working Poor» betroffen.

Kommen wir zurück zur ­Bildung: Die Caritas ­bemängelt die ungenügenden Aus- und Weiterbildungs­chancen für Erwachsene. ­Warum müssen die Arbeitgeber in die Verantwortung gezogen werden?
Arbeitgeber müssen sich mehr um ihr Personal kümmern – gerade beim Thema Bildung. Ein Hindernis für eine Aus- oder Weiterbildung bei Erwachsenen ist das fehlende Geld. Die Kurskosten sind schlicht zu hoch für Menschen mit tiefem Einkommen. Da müssen Arbeitgeber mehr Hand bieten und die Kosten übernehmen. Und das andere ist das Zeitmodell: Der Weg, dass man sein Arbeitspensum für eine Weiterbildung reduziert, ist für sehr viele Erwachsene nicht gangbar, weil sie sonst nicht mehr mit dem Lohn über die Runden kommen. In solchen Fällen wäre eine Flexibilität seitens Arbeitgeber eine enorme Entlastung. Arbeiterinnen und Arbeiter müssen gefördert und weitergebildet werden. Unabhängig von der Motivation und den finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten der Arbeitgeber.

Bessere Bildungschancen ­helfen also gegen Armut?
Die Armut in der Schweiz können wir um einen beachtlichen Teil verkleinern, wenn wir die Ver­erbung von Armut verhinde­­rn. Zum Beispiel, indem Kinder aus armen Familien Chancengleichheit auf dem Bildungsweg er­halten und indem man Familien mit Ergänzungsleistungen unterstützt, damit Kinder nicht in Armut aufwachsen müssen. Denn wer bereits in Armut aufwächst, hat ein viel höheres Risiko als ­andere Menschen, im Erwachsenenalter auch in Armut zu leben. Diesen Zusammenhang müssen wir durchbrechen.

Um 160%…

…gestiegen sind die Krankenkassenprämien seit 1996. Im gleichen Zeitraum stiegen die AHV-Renten um 3% und die Löhne um 12%.


Caritas-ForumMit Bildung Armut bekämpfen

Kann eine Aus- oder Weiterbildung der Weg aus der Armut sein? Dieser grossen Frage stellten sich Experten und Expertinnen am Caritas-Forum. Sie nahmen dabei die Arbeitgeber in die Pflicht.

ARM, OBWOHL SIE ARBEITET: Adèle Villiger chrampft als Reinigerin und lebt trotzdem am Existenzminimum. (Foto: Caritas / Dany Schulthess)

Die Bildungsschere in der Schweiz ist gross. Das zeigen die Zahlen aus der Sozialhilfe. Rund die Hälfte der Bezügerinnen und Bezüger haben keinen Abschluss nach der obligatorischen Schule. Fehlende Bildung kann also ein Treiber von Armut sein. Dieses Thema war der Fokus am Caritas-Forum Ende Januar in Bern. Wie schwierig es ist, in einer Tieflohnbranche zu arbeiten, mit wenig Geld über die Runden zu kommen und sich gleichzeitig weiterzubilden, zeigt das Beispiel von Adèle Villiger (45). Sie arbeitet als Reinigerin bei der Reinigungskooperative Flexifeen. Eine Gruppe von migrantischen Frauen, die ihre Arbeit selbst organisieren und somit Unternehmerinnen und Arbeiterinnen sind. Villiger ist arm, trotz Arbeit. Zurzeit möchte sie einen Bachelorabschluss machen, um irgendwann einen besser bezahlten Job zu finden. Ihre Ausbildung finanziert sie aus der eigenen Tasche, obwohl sie am Existenz-minimum lebt und deshalb Sozialhilfegelder bezieht. 

Villiger erzählt am Forum über den Alltag ihrer Arbeitskolleginnen: Diese kümmern sich um ihre Kinder, arbeiten in dem körperlich anstrengenden Beruf als Reinigerinnen und sollen sich zusätzlich weiterbilden. Zum Beispiel mit einem Deutschkurs. Aber wie soll das zeitlich aufgehen? Und wer bezahlt die Weiterbildung?

Verantwortung der Arbeitgeber

Gerade Arbeitgeber im Tieflohnbereich unterstützten das lebenslange Lernen zu wenig, kritisiert Caritas. Dies zeigen auch die Zahlen des Bundes: Gut zwei Drittel der Arbeiterinnen und Arbeiter in der höchsten Einkommensgruppe haben eine Weiterbildung gemacht. Die Mehrheit davon mit finanzieller Unterstützung ihrer Arbeitgeber. In der tiefsten Einkommensgruppe liegt dieser Wert bei der Hälfte. Also knapp ein Drittel hat sich weitergebildet und wurde dabei unterstützt. Fatal, denn gerade Personen mit einem tiefen Einkommen kann eine Weiterbildung aus der Armut helfen. 

Der Input von Peter Streckeisen, Dozent an der ZHAW, zeigt aber auch die Schattenseiten: Unser Bildungswettbewerb erzeugt nicht nur enormen Druck auf Kinder, sondern heizt eine klassenspezifische Diskriminierung an. Das heisst: Vermeintlich einfache Berufe werden gesellschaftlich abgewertet. 

Caritas: Der neue Sozialalmanach ist da

Seit 1999 gibt die Caritas jährlich einen Sozialalmanach heraus. Ein Sammelband mit Fachbeträgen zu einem aktuellen Thema, das die Armutsbekämpfung beeinflusst. Das Thema des Almanachs 2025: Stabil prekär. Mit (Weiter-)Bildung aus der Armut? 

Sozialalmanach 2025. Stabil prekär. Mit (Weiter-)Bildung aus der Armut? Herausgegeben von Caritas Schweiz, Fr. 29.–. Erhältlich in Buchhandlungen oder direkt bei der Caritas.

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