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Uhrenarbeiterin und Unia-Mitglied Erin Houriet (59): «Früher sah man mich nicht»

Seit 33 Jahren arbeitet Erin Houriet in der Qualitätskontrolle von Rolex in Genf. Vor fünf Jahren begann sie ihre Geschlechtsangleichung und setzt sich seither mit der Unia für LGBT-Rechte ein.

Uhrenarbeiterin und Unia-Mitglied Erin Houriet (59) spricht über ihre Arbeit bei Rolex und ihr neues Leben als Frau. (Foto: Olivier Vogelsang)

Die Faszination für die Uhrmacherei ist Teil ihrer Familiengeschichte. Bereits der Urgrossvater von Erin Houriet hatte ein Atelier für Mikrotechnik in Horgen ZH, der Grossvater war Uhrmacher in La Chaux-de-Fonds und der Vater Bijoutier in Genf. Als Kind konnte Erin, die damals noch Cédric hiess, im Atelier des Grossvaters Uhren demontieren und deren Feinmechanik entdecken. Der Weg zum Uhrmacher schien vorgezeichnet.

Kleinste Kratzer sehen

Houriet machte eine Ausbildung zum Mikrotechniker und begann 1992 mit der Arbeit für Rolex in Genf. Im Labor am Hauptsitz des Luxusuhrenkonzerns entwickelte er Maschinen zur Qualitätskontrolle. Houriet sagt: «Die Arbeit damals war interessanter als das, was ich jetzt machen muss.» Heute analysiert Houriet die Retouren aus den Rolex-Filialen. Sie untersucht die fehlerhaften Komponenten oder defekten Teile, die aus der ganzen Welt zurück nach Genf geschickt werden. Houriet sagt: «Manche Kundinnen und Kunden sind extrem penibel. Es gibt Kratzer auf dem Saphirglas, die von blossem Auge kaum sichtbar sind, aber trotzdem beanstandet werden.» Oft sind es ästhetische Probleme, aber es gibt auch Teile, die tatsächlich defekt sind. Manchmal schicken die Läden auch eine fehlerhafte neue Uhr zurück. Die Rolex-Uhren im Wert zwischen 5000 und 140 000 Franken sieht Houriet sonst aber nur im Katalog, am Handgelenk des Chefs oder bei der Uhrenmesse in Genf.

Patron kommt nicht mehr vorbei

In der Regel beginnt Houriet ihren Arbeitstag im Genfer Quartier Acacias um halb sieben Uhr morgens. Sie startet gerne so früh, damit sie auch früher Feierabend machen kann. Alle Arbeitstage seien ähnlich. Sie müsse mindestens acht Stücke analysieren und die Berichte schreiben. Wichtig seien auch die Meetings mit anderen Teams, dass man sich abspreche und die gleichen Standards habe. Houriet sagt: «Rolex hat extrem expandiert, fast alle Zulieferer in Genf aufgekauft und beschäftigt nun etwa 6000 Personen im Kanton.» Früher sei der Patron in ihrer Abteilung vorbeigekommen, aber das sei schon länger nicht mehr der Fall.

Calvins Geist bis zum Burnout

Bis im Jahr 2020 ging Houriet noch in Anzug und Krawatte zur Arbeit. Sie sagt: «In den Unternehmen in Genf herrscht immer noch mehrheitlich der patriarchale Geist von Calvin.» Auch bei Rolex seien die Hierarchien sehr wichtig und Kritik schwierig. Viele Jahre war auch Houriet total angepasst. Sie sagt: «Früher war ich sehr schüchtern und sagte nichts. Man sah mich nicht.» Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie geriet Houriet in ein Burnout. In dieser Zeit entdeckte sie auf Youtube Videos von Personen, die eine Geschlechtstransition gemacht hatten. Und im Lokalfernsehen sah sie Lynn Bertholet, eine ehemalige Genfer Bankdirektorin, die eine Geschlechtsangleichung hinter sich hatte. Houriet sagt: «Da habe ich gelernt, dass es Genderdysphorie gibt und dass ich das vielleicht auch habe.» Genderdysphorie ist, wenn sich eine Person nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert. Sie habe sich seit ihrer Jugend schon immer mehr als Frau gefühlt.

Der Weg zur Transition

Über eine Genfer Vereinigung für Transmenschen lernte Houriet Lynn Bertholet dann auch persönlich kennen und informierte sich bei ihr über den Prozess zur Geschlechtertransition. Houriet sagt: «Zuerst war ich 6 Monate bei einer Psychologin, um zu besprechen, ob ich wirklich bereit sei, und danach folgten noch Treffen mit einer Psychiaterin, die mir attestierte, dass ich eine Genderdysphorie habe.» Erst dann informierte Houriet auch ihr persönliches Umfeld und begann mit der Hormontherapie. Houriet sagt: «Ich habe auch mit der HR-Chefin von Rolex gesprochen und dann alle Mitarbeitenden meines Teams einzeln darüber informiert, dass ich eine Frau werde.»

Ein radikaler Wandel

Mit der Transition entschied sich Houriet zum Beitritt zur Unia. Damit wollte sie sich auch gegen allfällige Probleme in ihrem Job absichern. Houriet sagt: «Lynn Bertholet verlor nach ihrer Transition ihren Job als Bankdirektorin, und ich wollte keinesfalls, dass mir das gleiche passiert.» Am Anfang habe sie nur sehr unscheinbare Kleider angezogen, aber jetzt getraue sie sich auch, mit einem farbigen Foulard, lackierten Nägeln und Schminke zur Arbeit zu kommen. Houriet sagt: «Meine Transition war ein radikaler Wandel, aber ich musste nicht kämpfen, es hat sich für mich immer gut angefühlt.»

Neues Selbstvertrauen

In der Öffentlichkeit erlebt Erin Houriet jedoch auch Anfeindungen. «Beim Eingang meines Wohnblocks haben mich die Jungen auf der Terrasse immer wieder beleidigt. Da traute ich mich am Anfang fast nicht mehr aus dem Haus.» Mit der Zeit habe sie dank Wendo-Selbstverteidigungskursen mehr Selbstvertrauen entwickelt und sich auch in solchen Situationen nicht mehr einschüchtern lassen.


Erin Houriet Amazonen, Aquarelle, Aktivismus

Mit der Transition hat sich nicht nur ihr Körper, sondern auch das soziale Umfeld von Erin Houriet verändert. Erin Houriet lebt heute getrennt von ihrer Frau und ihren beiden Kindern, die inzwischen erwachsen sind. Früher spielte Houriet Trompete in einer Big Band. Heute spielt sie lieber alleine, seit kurzem auch Dudelsack. In ihrer Freizeit malt sie gerne Aquarelle und sammelt Bücher mit mythologischen Geschichten.

Engagiert

Auf ihrem linken Arm hat Houriet drei Amazonen tätowiert und auf dem rechten Arm Blumen und eine Labrys-Flagge mit einer Doppelaxt, ein Zeichen der lesbischen Community. Erin engagiert sich als feministische Aktivistin nicht nur bei der Unia, sondern auch als Vorstandsmitglied in einer lesbischen Vereinigung. Sie organisiert Kampfsportkurse und bietet für die Unia Genf neu auch LGBT-Sprechstunden an. Houriet engagiert sich auf nationaler Ebene für die IG Frauen der Unia und in der neuen LGBTQI-Gruppe (siehe Box).

Inspiriert

Den Namen Erin hat Houriet wegen der keltischen Wurzeln und des Films «Erin Brockovich» ausgewählt. Er steht für sie für Widerstand und Kampfgeist. Für ihren 100-Prozent-Job bei Rolex erhält sie 8000 Franken brutto. Dank dem neuen Uhren-GAV, der Lohntransparenz garantiert, kann sie ihren Lohn ohne Vorbehalte kommunizieren. (isc)

Unia Queer: LGBTQI-Treffen in Bern

Queere Arbeitnehmende machen einen wichtigen Teil der arbeitenden Bevölkerung aus. Neben Diskriminierungen im Alltag sind sie oft auch Druck am Arbeitsplatz ausgesetzt. Doch: Gewerkschaftlicher Widerstand gegen alle Formen von Diskriminierung hat Tradition. Am ersten nationalen LGBTQI-Treffen der Gewerkschaft Unia blicken queere Mitglieder und Mitarbeitende gemeinsam auf diese Tradition zurück. Expertinnen und Experten sprechen über die Situation heute, und die Teilnehmenden diskutieren, wie Verbesserungen für queere Arbeitnehmende erreicht werden können.

Unia-Queer-Treffen, 1. März, 10 bis 16 Uhr, Unia-Zentralsekretariat, Weltpoststrasse 20, Bern. Anmeldung hier.

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