Belarus: drei Jahre nach der Zerschlagung der Gewerkschaften
«In der Strafkolonie steckten sie mich gleich in die Arrestzelle!»

Sjarhej Antussewitsch: Trotz jahrelanger Haft gibt der Gewerkschafter nicht auf.

Vor drei Jahren liess der belarussische Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko die freien Gewerkschaften zerschlagen. Für Sjarhej Antussewitsch, den Vize-Präsidenten des Demokratischen Gewerkschaftsbunds BKDP, brachte dies zwei Jahre Straflager, dann Arbeitslosigkeit und jetzt Exil. Im Interview berichtet er erstmals über seine Knasterlebnisse. Und er sagt, warum er trotz allem nicht ans Aufgeben denkt.

Sjarhej Antussewitsch: Trotz Haft und Exil gibt der Gewerkschafter nicht auf. (Foto: Solidarnost)

work: Herr Antussewitsch, Sie sassen über zwei Jahre in Haft und sind für das Lukaschenko-Regime ein Extremist. Haben Sie das kommen sehen?
Sjarhej Antussewitsch: Uns vom Gewerkschaftsbund BKDP war klar, dass nach der Wahlfälschung und den Massenprotesten von 2020 praktisch ein Krieg gegen die Zivilgesellschaft begonnen hatte. Das Regime versuchte, alle Organisationen zu vernichten, die eine alternative Sicht auf die Entwicklung der Lage im Land haben. Wir konnten da natürlich nicht einfach passiv bleiben. Und so wurden auch wir verfolgt. Ich erinnere mich sehr gut an den 19. April 2022.

Sie sprechen von der damaligen Grossrazzia gegen die gesamte unabhängige Gewerkschaftsbewegung.
Genau, an diesem Tag stürmte plötzlich ein Dutzend Männer in unser Büro. Sie schrien: «Hände weg vom Computer!» Aljaksandr Jaraschuk (der BKDP-Präsident, Anm. d. R.) und ich wurden sofort in Handschellen gelegt. Ich musste an einer Wand stehen. Neben mir zwei Mann, die aufpassten, dass ich meinen Kopf nicht drehe und sehe, was hinter mir vor sich geht. Dann verlas uns der Einsatzleiter einen Haufen Paragrafen, nach denen wir beschuldigt wurden. Ich versuchte, mir wenigstens einige zu merken, aber es waren einfach zu viele.

Dann brachten sie mich in ein Geheimdienstgebäude des KGB und es begannen stundenlange Verhöre.

Einige Male wurde ich zur Toilette gebracht, und im Gang konnte ich durch einige offene Türen blicken. In den anderen Zimmern sassen überall Gewerkschaftskollegen. Spät in der Nacht kam ich dann in die «Amerykanka»…

…also ins berüchtigte Geheimdienstgefängnis und Folterzentrum in der Hauptstadt Minsk.
Ich sah diesen Ort nun zum ersten Mal mit eigenen Augen. Meine drei Zellengenossen sagten mir: ‘Lass lieber die Kleider an, es ist kalt hier.’ Das Zellenfenster war ständig offen. Wenn es geschlossen worden wäre, hätte sich an den Wänden Schimmel gebildet. Und das bedeutet Lungenkrankheiten. Daher gab es keine Alternative. Wir mussten in voller Montur schlafen.

Wie lange wurden Sie in der «Amerykanka» festgehalten?
Zehn Tage, gleich wie meine anderen Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen. Dann wurden wir in das Untersuchungsgefängnis Nr. 1 verlegt, in die «Waladarka».

Dort wurden Ende 1930er-Jahre zur Zeit des Grossen Terrors unter Joseph Stalin Inhaftierte hingerichtet. Heute konzentriert Staatspräsident Alexander Lukaschenko dort die wichtigsten politischen Gefangenen.
Ich teilte meine Zelle mit 15 weiteren Insassen. Neun davon waren politische Gefangene.

War die Haft in der «Waladarka» noch härter als in der «Amerykanka»?
Sie war noch erniedrigender. In der Waladarka konntest du zum Beispiel nur zu fixen und lang auseinanderliegenden Zeiten aufs WC. Und es gab viel mehr Leute, die dir dabei zuschauen mussten. Oder dann die Aluminiumtassen ohne Griffe. Wenn da heisser Tee drin ist, kannst du sie nicht halten. Dann trinkst du entweder kalten Tee oder gar keinen. Wir haben aus einer Plastikflasche etwas gebastelt, damit man sich die Hände nicht verbrennt. Doch während der Zellenkontrollen mussten wir diese Konstruktion verstecken oder sie wurde einkassiert. Das klingt jetzt nach einer Kleinigkeit. Aber mit solchen Schikanen geben sie dir ständig zu verstehen, dass sie mit dir machen werden, was sie wollen.

Nach fast neun Monaten Untersuchungshaft kam es endlich zum Prozess. Wie verlief er?Alles wurde bereits im Voraus entschieden, die Gerichtsverhandlungen sind reine Formsache. Wir standen zu dritt vor Gericht. Die Verhandlung begann am 20. Dezember 2022. Und schon sechs Tage später wurde das Urteil verkündet.

Es ist klar, dass das sogenannte Rechtssystem in Belarus in politischen Verfahren kein Interesse hat, die Dinge objektiv zu untersuchen.

Von der Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung will ich gar nicht erst reden. Das ist alles dermassen willkürlich, dass dich die Anwälte gegen gar nichts verteidigen können. Im Grunde werden sie von niemandem gehört.

Was wurde Ihnen überhaupt vorgeworfen?
Zwei Teilnahmen an Demonstrationen in Minsk.

Dafür wurden Sie zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt!
Richtig, doch nach dem Urteil dauerte es nochmals einen Monat. Erst dann wurde ich in einem Gefängniszug in die Strafkolonie in der Stadt Mahiljou verlegt. In meinem Waggon war ich der einzige «Politische». Und auch der einzige, den sie in Handschellen legten. Nach einigen Stunden Fahrt bat ich die Wache, die Handschellen etwas zu lockern. Ich argumentierte, dass eine Flucht aus dem Gefängniszug ja eh unmöglich sei. Vergeblich. Eine der Wachen sagte nur: «Hättest halt besser unseren Präsidenten lieben sollen.» So blieb ich acht Stunden gefesselt. In der Strafkolonie traf ich einen Bekannten, der sogar 60 Stunden in Handschellen transportiert worden war. Mich steckten sie dafür schon am zweiten Tag in Mahiljou in den Karzer.

Also in die Arrestzelle. Was haben Sie angestellt?
Ich habe zwei Mal gegen die Kleiderordnung verstossen. Beim ersten Mal machten wir gerade die Räume der Quarantänestation sauber. Wir hatten zehn Bottiche Wasser auf den Boden gekippt, um ihn zu putzen, und ich war barfuss in Schlappen. Als wir fertig waren, wurde ich vom Abteilungschef vorgeladen. Ich war ganz neu und verstand noch nicht, wie es läuft, und ging in diesen Schlappen zum Chef, hatte es grad noch geschafft, Socken anzuziehen. Da habe ich meine zehn Tage Strafzelle bekommen.

Und Ihr zweiter Verstoss?
Das zweite Mal habe ich meine Uniform für eine Minute abgelegt, weil es in der Zelle sehr stickig war. Ich hatte sie abgelegt, mich mit kaltem Wasser übergossen und ihn dann wieder angezogen. Aber das Überwachungsfoto war schon gedruckt und der Bericht schon geschrieben. Wenn du zwei Mal solche Verstösse begangen hast, bist du ein «Böswilliger». Dann kannst du jederzeit in den Karzer verlegt werden.

Was fiel ihnen am schwersten in der Gefangenschaft?
Wenn du an einen solchen Ort kommst, ist alles schwierig. Dein Leben ändert sich derart grundlegend, dass man es nicht beschreiben kann. Du kannst lange nicht begreifen, dass das alles wirklich mit dir passiert. Es gab da zum Beispiel Wärter, die kamen zu den Zellen und öffneten die Futterklappen. Dann musste man seinen Namen und Nachnamen sagen, den Paragrafen, nach dem man verurteilt wurde, und die Nummer des Schlafplatzes. In der Regel geschah das täglich zwei Mal. Nach anderthalb Monaten dachten sie sich eine neue Sache aus:

Wir wurden jede Woche in eine neue Zelle verlegt. So stehst du ständig unter Spannung, denn du weisst nicht, wer deine neuen Zellengenossen sein werden.

Andererseits konnte ich dadurch einige meiner Kollegen sehen und habe praktisch alle kennengelernt, die dort wegen der sogenannten Extremistenparagrafen einsassen.

Am 31. Oktober 2023 kamen Sie auf freien Fuss. Wie ging es für Sie weiter?
Die erste Zeit war ich voller Euphorie, weil ich die schwarze Anstaltskleidung nicht mehr tragen musste. Und weil ich nicht mehr genau um sechs Uhr morgens aufstehen und mich genau um zehn Uhr abends schlafen legen musste, weil ich nicht mehr in Reih und Glied gehen musste.

Und dann folgte die Ernüchterung?
Später verstehst du, dass du für immer unter sogenannt Präventivüberwachung stehen wirst. Und dass die Bürokraten jeden Augenblick ein neues, aus der Luft gegriffenes Strafverfahren gegen dich eröffnen können. Selbst dann, wenn du nichts Illegales getan hast. Das ist wohl das Schlimmste: Es gibt heute in Belarus sehr viele Leute, die vom Regime als unzuverlässig oder sogar als Verräter betrachtet werden. Eine normale Arbeit kannst du nicht finden, weil dir die Markierung eines «Extremisten» anhaftet. Dieses schwarze Brandmal ist immer präsent, wenn du mit Beamten zu tun hast, das kann kein Anzug verdecken. Hinzu kommt, dass man bei einer Bewerbung Zeugnisse von zwei früheren Arbeitgebern braucht. Wo soll ich die herbekommen, wenn doch alle Organisationen, für die ich in den letzten 25 Jahren gearbeitet habe, vom Obersten Gericht aufgelöst wurden, und deren Kader entweder im Gefängnis sitzen oder emigriert sind? Es war ziemlich unangenehm, als ich realisierte, dass mein gesamtes soziales Kapital plötzlich bei null lag. Nach einer Weile kapierte ich, dass ich wahrscheinlich erneut verhaftet werden würde. Also beschloss ich, ins Ausland zu gehen.

Das Lukaschenko-Regime behauptet sich nun schon seit mehr als 30 Jahren, trotz wiederkehrender Massenproteste. Haben Sie jemals ans Aufgeben gedacht?
Nein. Ich verstehe aber, dass sehr viele meiner Landsleute heute lieber nach den Regeln einer routinemässigen und sicheren Ordnung leben. Jeden Tag zur gleichen Zeit aufstehen, zur Arbeit gehen, nach Hause kommen, dann auf der Datscha herumwerkeln. Und ja nicht anecken! Schliesslich hat die belarussische Gesellschaft die Vernichtung von Einzelschicksalen und ganzen Familien erlebt. Und sie erlebt das weiterhin.

Im Sommer 2024 gelang Ihnen die Flucht nach Deutschland, wo Sie seither im Exil leben. Wie geht es jetzt weiter?

Jetzt sind wir in einer Phase, in der meine Kolleginnen und ich versuchen, wieder Gewerkschaftsarbeit zu machen.

Ich möchte mich nützlich machen, in meinem Land, aber auch im Ausland. Denn was uns widerfahren ist, soll sich nirgendwo wiederholen! Wie mein weiteres Schicksal aussieht, weiss ich nicht. Aber wir müssen versuchen, eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung zurück nach Belarus zu bringen. Das muss aber so gemacht werden, dass es endgültig und unumkehrbar ist.

* Viktoria Leontjewa ist Journalistin bei Gazetaby.com/Salidarnasc, der Onlineausgabe der bis zum Jahr 2006 gedruckt erschienenen Gewerkschaftszeitung Solidarnost (dt. Solidarität). Das Blatt galt stets als Lukaschenko-kritisch, Mitarbeiter waren zunehmend Drohungen und Repressionen ausgesetzt. Daher war die Zeitung gezwungen, sich ins Internet zurückzuziehen. Zur Präsidentschaftswahl 2020 wurde die Internetseite von den belarussischen Behörden gesperrt. work hat das Original-Interview fürs deutschsprachige Publikum leicht gekürzt und bearbeitet.

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