Vor hundert Jahren gründete der Sozialist Robert Grimm das Oltener Aktionskomitee. Unglaublich, wie der Mann das schaffte. Denn nur ein halbes Jahr zuvor lag er noch politisch am Boden.
SCHÖN FRISIERT: Robert Grimm in der SRF-Doku, verkörpert von Ralph Gassmann. Unia-Industriechef Corrado Pardini spielt den Nationalratspräsidenten. (Foto: SRF)
Sie trafen sich am 4. Februar 1918 in Olten. Robert Grimm (37) hatte gerufen. Der energische SP-Nationalrat und «Tagwacht»-Redaktor trommelte Freunde mit Einfluss aus der Sozialdemokratischen Partei, dem Gewerkschaftsbund und einzelnen Gewerkschaften zusammen. An der Sitzung beschlossen sie ein Aktionskomitee. Ein historischer Schritt. Denn das «Oltener Aktionskomitee» sollte später den einzigen Landesstreik der Schweiz leiten. Und der Chef war Grimm. Obwohl er sich ein halbes Jahr zuvor politisch ausser Gefecht gesetzt hatte.
SKANDAL IN RUSSLAND. Grimm hatte 1915 die internationale Konferenz von Zimmerwald organisiert. Lenin und Trotzki waren dabei. Alle bewunderten Grimm als prominenten Sozialistenführer und Mann von Welt. Doch dann überlupfte er sich völlig. Eigenmächtig wollte er sich in St. Petersburg als Friedensstifter zwischen dem kriegführenden Russland und Deutschland profilieren. Das ging gründlich schief. Es gab einen Skandal, weil Bundesrat Arthur Hoffmann (FDP) als Mitwisser involviert war. Hoffmann musste zurücktreten, und Grimms Ruf war ruiniert, selbst in den eigenen Reihen: Die SP sprach ihm nur knapp das Vertrauen aus. Sein Schicksal schien besiegelt. Dann machte der Bundesrat einen Fehler. Im Herbst 1917 plante er über die Köpfe der Gewerkschaften hinweg einen allgemeinen Zivildienst: Er wollte alle Leute zwischen 14 und 60 Jahren für Landarbeiten aufbieten. So sollte der kriegsbedingte Mangel an Lebensmitteln gelindert werden. Die Linke lief Sturm, sie befürchtete die «Zwangsmilitarisierung» von Arbeiterinnen und Arbeitern. Der Bundesrat wolle die Schweiz «in ein Witzwil verwandeln», so die Kritik. Im bernischen Witzwil befand sich ein berüchtigtes Internierungslager. Da sah Grimm seine Chance mit dem Oltener Aktionskomitee gekommen. Es sollte dem Bundesrat einen dicken Strich durch die Rechnung machen.
BLINDES BÜRGERTUM. Aber nicht nur das: Das Komitee sollte auch die Arbeiterschaft im Kampf gegen das Bürgertum anführen. Ein blindes Bürgertum, das die Arbeiterschaft hungern liess und systematisch von der Macht fernhielt. Grimm war marxistisch gesinnt, er sah sich als Dirigenten des Klassenkampfs. Es gab Drohungen mit Streik, gar mit Generalstreik. Und tatsächlich: Der Bundesrat krebste zurück und begrub seine Pläne schnell wieder. Was blieb, war der Schock über die aufrührerischen Töne.
Wille wollte den Linken nur zu gern mal eines auswischen.
Manche Bürgerlichen sahen schon die Oktoberrevolution vor der Tür. In Panik verwechselten sie Schweizer Büezer mit russischen Bolschewisten. Und riefen das Militär. An seiner Spitze stand der erzreaktionäre General Ulrich Wille (70), ein preussischer Militarist mit Anzeichen von Alterssenilität. Rund um ihn ein Kreis von Haudrauf-Offizieren, die den verhassten Linken nur zu gern mal ordentlich eins auswischen wollten. Rasch mussten Pläne zur Bekämpfung eines Aufstands her. Und sogar für einen Bürgerkrieg. Ein halbes Jahr vor dem Landesstreik standen die Zeichen auf Konfrontation.
Im März 1918 schickte das Oltener Aktionskomitee dem Bundesrat fünfzehn ultimative Forderungen ins Haus. Darin kein Wort von Umsturz, es ging nur um Krisenbekämpfung: feste Preise für Lebensmittel, keine Erhöhung der Milch- und Brotpreise, Ausschaltung des Zwischenhandels, Staatsmonopol für Kohle, Ankauf der ganzen Kartoffelernte durch den Bund, Einrichtung von Suppenküchen und Notstandsarbeiten für Arbeitslose. Auch sollten die Unternehmen ihre Kriegsgewinne dem Staat abliefern. Von den berühmten Forderungen des Generalstreiks – Proporzwahl, Frauenstimmrecht, AHV, 48-Stunden-Woche – war noch nicht die Rede.
PROVOKATION. Umso mehr zu diskutieren gaben hingegen die Kampfmittel. Die Gewerkschafter dachten zwar durchaus an einen Generalstreik, aber höchstens an einen befristeten. Alles andere erschien ihnen zu riskant. Grimm selber meinte: «Der unbefristete Streik kommt für uns heute kaum in Frage, da er in seinen Konsequenzen unabsehbar ist.»
Im November 1918 aber stand das Militär mit Maschinengewehren und Handgranaten in Bern und Zürich. Eine Provokation, die nur eine Antwort übrigliess: Generalstreik.
SRF-Doku: Lebendige Geschichte
Fesche Schnäuze, sorgende Müeti und schneidige Parolen: Autor Hansjürg Zumstein liebt den Holzschnitt. Mit allerhand Klischees setzt er in seiner 90minütigen SRFDoku-Fiction «Landesstreik 1918 – die Schweiz am Rande des Bürgerkriegs» die epochale Konfrontation der Arbeiterbewegung mit dem Bürgertum ins Bild. Der Streik kommt als spannender Showdown zwischen dem Arbeiterführer Robert Grimm und dem reaktionären Oberstdivisionär und späteren Faschisten Emil Sonderegger daher. Damit sind Gut und Böse zwar richtig verteilt. Doch die sozialen Ursachen des Konflikts – Hunger, Elend, Entwürdigung – bleiben ausgeblendet. Ebenso die Streikenden selbst: sie kommen nur auf Fotos vor.
HÖLZERN. Zum Glück gibt es erhellende Kommentare von Historikern wie Jakob Tanner, Bernard Degen oder Marc Perrenoud. Sie ordnen ein, machen deutlich und stellen die Spielszenen mit teils hölzernen Dialogen in einen Zusammenhang. Mit dabei auch Nationalrat und Unia-Mann Corrado Pardini: Er mimt in einer Szene hinter Redner Grimm den Nationalratspräsidenten (siehe Bild rechts). Die Doku ist im Internet zu sehen auf: rebrand.ly/srfdoku