Weit über eine Million Arbeitnehmende führte die IG Metall in den Streik um einen neuen Tarifvertrag. Dieser macht auch anderen Gewerkschaftern wieder Hoffnung.
SCHÖN SCHRILL: Streikende Metallerinnen und Metaller im westfälischen Hagen fordern mehr Zeit, um sich um Kinder oder Pflegebedürftige in der Familie kümmern zu können. (Foto: Thomas Range)
Die deutschen Metaller haben einen Tarifabschluss erreicht. Damit geht ein aufsehenerregender Arbeitskampf zu Ende, der seit Jahresbeginn andauerte. Annähernd 1,5 Millionen Arbeiter legten in dieser Zeit ihre Arbeit nieder und nahmen an Warnstreiks teil. Dies in einer Branche, die 3,9 Millionen Beschäftigte zählt.
Mit dem Abschluss zeigt sich IG-Metall-Chef Jörg Hofmann denn auch sehr zufrieden. Die Einigung sei zukunftsweisend. Und weiter: «Mit dem Ergebnis haben wir weitreichend die Ziele erreicht, die wir uns gesteckt hatten.» Doch nicht nur die Gewerkschaften jubeln. Sondern auch die Unternehmer. Wer hat mehr Grund zum Feiern?
FORDERUNGEN ZUR ARBEITSZEIT
Die IG Metall hatte diesmal nicht nur sechs Prozent mehr Lohn verlangt. Sondern sie stellte auch eine bemerkenswerte Forderung zum Thema Arbeitszeiten auf. Nämlich die Möglichkeit, in die sogenannte «kurze Vollzeit» zu wechseln. Arbeiter und Angestellte sollten ihre Wochenstundenzahl für eine bestimmte Zeit auf bis zu 28 Stunden reduzieren können. Und nach maximal zwei Jahren hätten sie das Recht, wieder in die Vollzeit zurückzuwechseln. Für Schichtarbeiter und Beschäftigte, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen, verlangte die Gewerkschaft zusätzlich Zulagen.
Beim Thema Arbeitszeiten ist die IG Metall Vorreiterin.
Statt 6 Prozent mehr Lohn soll es jetzt 4,3 Prozent mehr geben, verteilt auf 27 Monate. Dazu kommen gewisse Sonderzahlungen. Aufs Jahr berechnet, macht das eine Lohnerhöhung von etwa 3 Prozent aus. Das haben die beiden deutschen Ökonomen Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt ausgerechnet. Für Schweizer Verhältnisse ist das allerhand. Doch Flassbeck und Steinhardt meinen: «Das, liebe IG Metall, ist zu wenig!» Die Lohnsteigerung würde von der Inflation weitgehend wieder zunichte gemacht. Und da sich andere Branchen am Abschluss der Metall- und Elektroindustrie orientierten, könnten dort die Löhne unter Druck kommen.
DIE «KURZE VOLLZEIT»
Einen wesentlichen Bestandteil der «kurzen Vollzeit» konnte die Gewerkschaft hingegen durchsetzen: das Rückkehrrecht in die Vollzeit für Beschäftigte, die die Arbeitszeit reduzieren. Ein süsser Durchbruch, der nicht zu unterschätzen ist. Häufig stellen sich die Chefinnen und Chefs heute nämlich quer, wenn Arbeitnehmende ihre Arbeitszeit nach einer Reduktion wieder erhöhen möchten.
Aus den Zuschlägen, die besonders belastete Beschäftigtengruppen bei einer Arbeitszeitreduzierung erhalten sollten, wurde leider nichts. Dafür dürfen diese nun acht freie Tage im Jahr mehr nehmen, von denen allerdings nur deren zwei bezahlt sind. Bitter dabei: Künftig dürfen umgekehrt die Betriebe die Angestellten länger arbeiten lassen. Schon heute können sie von der regulären Arbeitszeit nach oben abweichen. Im Westen Deutschlands beträgt diese 35 Wochenstunden, in den ostdeutschen Bundesländern sind es 38. Jetzt sollen die Chefs unter gewissen Bedingungen sogar bis zu 30 Prozent der Kollegen länger chrampfen lassen können, zum Teil gar bis zu 50 Prozent.
MUTIGE IG-METALL
Bernd Riexinger, Co-Chef der deutschen Linkspartei, begleitete mehrere Streiktage. Er sagt dazu: «Das geht in die falsche Richtung.» Die IG Metall sei dieses Jahr in einer aussergewöhnlich starken Position gewesen. Einerseits boome die Industrie, andererseits hätten die Beschäftigten besonders engagiert an den Streiks teilgenommen. Man hätte also noch mehr herausholen können, urteilt der Politiker. Trotzdem findet er, die IG Metall habe in der Auseinandersetzung auf das richtige Thema gesetzt.
Tatsächlich hat sich die IG Metall seit Anfang der 2000er Jahre nicht mehr an das Thema Arbeitszeitreduktion getraut. Damals wollten die Metaller die Einführung der 35-Stunden-Woche im Osten Deutschlands erreichen. Nach dem Muster des Westens, wo sie seit den 1980ern gilt. Doch die IG Metall schaffte das nicht. Seitdem war der Kampf um die Arbeitszeiten tabu. Bis heute. Nun hoffen auch Gewerkschafter in anderen Verbänden wieder auf mehr politischen Handlungsspielraum. Denn die IG Metall hat als Vorreiterin eines deutlich gemacht: Nicht nur für mehr Lohn lohnt es sich zu streiken.