Stur wie eine Eselin
Die Wahrheit ist ja bekanntlich ein stark umworbenes, kostbares Gut. Und sieht je nach Blickwinkel sehr unterschiedlich aus.
«Mittelscheitel, Schnauz, unverändert seit Jahrzehnten»: so beschrieb einst die NZZ den obersten Gewerkschafter der Schweiz. Doch der Konservativismus bei Paul Rechsteiner zeigt sich nur in seinem Äusseren. Im Herzen ist der rote Paul ein Klassenkämpfer. Mutter Putzfrau, Vater Hilfsarbeiter, Anwalt der kleinen Leute, mit 34 im Nationalrat, mit 46 Chef des Gewerkschaftsbundes, seit 2011 St. Galler Ständerat. Schnell-steile Karriere. Nur der Schnauz blieb stets an Ort. Doch jetzt will er gehen. Zwar tritt Rechsteiner bei den nächsten Ständeratswahlen wieder an. Aber beim SGB ist im November Schluss: Es sei Zeit für einen Generationenwechsel, sagt er.
HEIKEL. Zwanzig Jahre hat Rechsteiner den Flohsack Gewerkschaftsbund zusammengehalten. Kein kleines Kunststück. Doch er tat es mit Integrität und Integrationskraft. Die konnte er auch gut gebrauchen, denn unter seiner Führung hat sich die Gewerkschaftslandschaft mächtig verändert. Seit der Fusion der Gewerkschaften Smuv, GBI und VHTL zur Unia ist diese das grösste und (finanz)stärkste Pferd im SGB-Stall. Nicht immer zur Begeisterung der kleineren Verbände. Umso diffiziler dürfte die Wahl von Rechsteiners Nachfolge werden.
Gysi? Pardini? Reynard? Oder alles anders?
PAPABILI. Eine Nachfolgerin sähen viele gern. Im nationalen Parlament sollte die Frau idealerweise auch sein. Und wäre sie auch noch Präsidentin eines Verbandes, hätte sie sicher gute Chancen. In dieses Raster passt Barbara Gysi. Die St. Galler SP-Nationalrätin präsidiert den Bundespersonalverband und wäre, wie es in den Wandelhallen wispert, dem Amt auch nicht abhold. Unia-Industriechef Corrado Pardini ist zwar keine Frau, doch seine grosse Erfahrung als Gewerkschafter und Politiker machen ihn zum Papabile. Eher unwahrscheinlich ist ein Wechsel von Unia-Chefin Vania Alleva ins höchste SGB-Amt. Sie ist derzeit zwar SGB-Vizechefin, zusammen mit SEV-Chef Giorgio Tuti. Doch was täte die Unia ohne ihre Präsidentin? Regula Rytz ist zwar ein wohlklingender Name, doch die Grünen-Chefin wird ihre Partei kaum jetzt verlassen, wo es dieser so gut läuft. Und die Romands? Da ist etwa der Walliser Gewerkschaftsbundschef und SP-Nationalrat Mathias Reynard. Er ist jung, Unia-Mitglied und am Widerstand gegen SVP-Freysinger gewachsen.
NOCH BLEIBT ZEIT. Und vielleicht küsst der SGB-Kongress Ende Jahr ja eine Quereinsteigerin oder einen Quereinsteiger. Schliesslich war auch Rechsteiner bei seiner Wahl ohne Hausmacht eines Verbandes.