Andreas Rieger
Jahrelang kam von der EU keine soziale Reform mehr. Vielmehr hatte ihre Sparpolitik antisoziale Auswirkungen auf die Menschen: bei der Gesundheit, der Bildung und den Sozialleistungen. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts, die die EU gleichzeitig durchpeitschte, schaffte zudem massenweise Unsicherheit und prekäre Jobs. Und der Europäische Gerichtshof gab noch eins drauf: Er sprach vielen sozialen Regelungen die Berechtigung ab, die Lohndumping verhindern sollten.
BRÜSSEL WUNDERT SICH. Am härtesten traf diese Politik Griechenland und andere Länder des Südens. Aber auch Deutschland: Gemeinden verarmten, die Infrastruktur verlotterte, und es entstand der grösste Tieflohnsektor Europas. Die Verantwortlichen dafür: Ex-EU-Präsident José Emanuel Barroso, der ehemalige deutsche Kassenwart Wolfgang Schäuble und die Troika (Europäische Kommission und Zentralbank sowie Internationaler Währungsfonds). Und die politische Elite in Brüssel wunderte sich, dass die EU in der Bevölkerung kaum noch Unterstützung fand.
Die EU kriegt die soziale Kurve.
RICHTIGE RICHTUNG. Entsprechend unter Druck stand die neu gewählte EU-Kommission 2015. Ihr Präsident, Jean Claude Juncker, sprach von der «Kommission der letzten Chance» und machte soziale Versprechungen. Die Gewerkschaften verlangten Taten statt Worte. Und siehe da: Jetzt zeichnen sich mit dem «Sockel der sozialen Rechte» erstmals wieder Fortschritte in der EU ab. Die Richtlinie über die entsandten Arbeitnehmenden wird verschärft, um Lohndumping einzudämmen. Die EU schafft zudem neu eine Agentur der Arbeit, um den Arbeitnehmerschutz länderübergreifend durchzusetzen. Neu sollen in Zukunft auch die Eckwerte jeder Anstellung in einem schriftlichen Arbeitsvertrag festgehalten werden. Und schliesslich arbeitet die EU auch an einer Verbesserung der Bedingungen für Arbeitnehmende mit Familienpflichten. Das alles ist noch keine umfassende Wende, aber die EU macht eine soziale Kurve in die richtige Richtung. In der Schweiz können sich die Arbeitenden darüber nur freuen. Denn hier weht weiter der steife Wind des Sozialabbaus und der Deregulierung.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.