Wie es zum Spitzel-Freipass kam, wer das Gesetz wirklich geschrieben hat und warum es so gefährlich ist. work beantwortet die wichtigsten Fragen.
SOGAR IM SCHLAFZIMMER: Die Versicherungsschnüffler dürfen uns alle überwachen, auch wenn wir nur eine Grippe haben. (Illustration: Bruno Muff)
Warum das Gesetz?
Im Oktober 2016 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass es in der Schweiz keine gesetzliche Grundlage für die Bespitzelung von versicherten Personen durch Privatdetektive gebe. Klage geführt hatte der Zürcher Anwalt Philip Stolkin für eine Klientin, die überwacht worden war. Sie erhielt vom Gericht eine Genugtuung von 8000 Euro. Als Folge dieses Urteils erklärte das Bundesgericht im August 2017 auch die Überwachung von Menschen, die IV beziehen, für unzulässig. Die Versicherungen wollten deshalb ein entsprechendes neues Gesetz.
Wer hat die aktuelle Fassung geschrieben?
Die Versicherungen gleich selbst. Ihre Lobbyisten sorgten dann dafür, dass es in einem Affenzahn durch National- und Ständerat gepeitscht wurde. Die Bereinigung in der Frühjahrssession dauerte gerade mal eine Woche. Das ist für Bundeshausverhältnisse Lichtgeschwindigkeit.
Warum ist es so gefährlich?
In seiner von den Räten verabschiedeten Form gibt das Gesetz privaten Schnüfflerinnen und Schnüfflern mehr Kompetenzen, als sie Polizei und Geheimdienste bei der Terrorbekämpfung haben. Privatdetektive dürfen Versicherte an allen öffentlich einsehbaren Orten beobachten und abhören. Als «öffentlich einsehbar» gelten private Balkone und Gärten ebenso wie das Schlafzimmer – ausser dieses hat keine Fenster. Selbst Drohnen dürfen die Versicherungsspitzel einsetzen. Das alles kann jede beliebige Sachbearbeiterin und jeder beliebige Sachbearbeiter bei einer Versicherung anordnen. Ohne richterlichen Beschluss. Einen solchen braucht es nur für die Überwachung mit GPS-Peilsendern. Das Gesetz verstösst nach Ansicht renommierter Staats- und Sozialversicherungsrechtler gegen das Grundrecht auf Privatsphäre.
Wer kann überwacht werden?
Alle! Denn die Versicherungslobby hat es geschafft, die Überwachungsbestimmungen in den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts zu schreiben. Das tönt nach technischem Detail, hat aber massive Folgen. Denn die Bespitzelungsparagraphen gelten jetzt für alle Sozialversicherungen. Also auch für Krankenkasse und die AHV. Das bedeutet zum Beispiel: Auch wer wegen Grippe krank geschrieben ist, kann künftig bespitzelt werden. Und das heisst zum Beispiel: Wer auf AHV-Ergänzungsleistungen angewiesen ist, muss künftig damit rechnen, dass der unauffällige Mann in der Kassenschlange die Lebensmitteleinkäufe ausspioniert.
Ist für Betrug, wer gegen das Gesetz ist?
Nein, natürlich nicht. Im Strafrecht gibt es schon heute den Tatbestand des «missbräuchlichen Bezugs von Sozialleistungen». Will man Überwachungen von Leistungsbeziehenden ermöglichen, die unter Missbrauchsverdacht stehen, könnte dies in der Strafprozessordnung geregelt werden. Sie müssten dann von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden, und es bestünden Rechtsmittel. Das aktuelle Gesetz dagegen ermöglicht den Versicherungen den Aufbau eines unkontrollierten privaten Bespitzelungssystems.
Was kann ich dagegen tun?
Das Referendum unterschreiben. Unterschriftsbogen runterladen oder direkt unterschreiben auf rebrand.ly/spitzelstopp.
Zusammengestellt von Clemens Studer
Referendum lanciertEs begann mit einem Zwitschern
Eine Autorin, ein Anwalt und ein junger Politiker aus Interlaken machen müde Linke munter.
INITIANTIN: Sibylle Berg.
Auch ganz grosse Dinge fangen manchmal klitzeklein an. Zum Beispiel das Referendum gegen das «Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) (Gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten)», Geschäftsnummer 16.479.
Am 16. März um 14.50 Uhr schrieb @bergsibylle auf Twitter «Referendum. schnell». Berg ist Schriftstellerin («Der Tag, als meine Frau einen Mann fand»), in der DDR sozialisiert und lebt seit 22 Jahren in der Schweiz. Gut drei Stunden später hatte Sybille Berg zwei Mitstreiter: Hernâni Marques (@vecirex), Hacker und Aktivist beim Chaos Computer Club, und Dimitri Rougy (@DimitriRougy), Campaigner und SP-Politiker in Interlaken BE. Rougy klapperte Parteien und Organisationen ab. Doch keine wollte sich engagieren. Berg und Rougy kontaktierten den Zürcher Anwalt Philip Stolkin – jenen Mann, der das Strassburger Urteil gegen die Bespitzelung von Versicherten erwirkt hatte (siehe Hauptartikel). Die drei starten auf der Internetplattform WeCollect einen Aufruf: Wenn 5000 Menschen online ihre Unterschrift zusagen, starten wir das Referendum. Der Rest ist Geschichte.
Komitee gegen Schnüfflergesetz zieht die SP auf die linke Seite.
Diesen Schuss lange nicht gehört hatten die SP-Oberen. Sowohl Fraktionschef Roger Nordmann als auch Präsident Christian Levrat gaben sich demonstrativ desinteressiert: Wichtigeres zu tun, keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit der SVP. Das sieht die Basis anders, wie die Reaktionen in zahlreichen Kantonalparteien zeigen. Und auch parlamentarische Schwergewichte wie die Basler Sozialpolitikerin Silvia Schenker engagieren sich an vorderster Front für das Referendum. Seit dem vergangenen Wochenende ist jetzt auch die SP-Parteileitung auf Referendums-Spur.