In Zürich wehren sich Kita-Mitarbeitende gegen Personalmangel, lange Arbeitstage und tiefen Lohn. In der Gruppe «Trotzphase» haben sie sich organisiert. work traf Mitgründerin Camilla Carboni.
KEIN KINDERSPIEL: Camilla Carboni engagiert sich für bessere Arbeitsbedingungen in den Kitas. (Foto: Nicolas Zonvi)
Camilla Carboni hat gerade viel um die Ohren. Der Flyer für die 1.-Mai-Demo muss noch gedruckt werden, die letzten Workshop-Vorbereitungen fürs Zürcher Maifest laufen – und zu Hause stapelt sich die Wäsche. Für work findet die junge Zürcherin trotzdem Zeit. Klar seien die Tage im Moment etwas anstrengend, sagt Carboni. Aber: «Wenn wir wollen, dass sich etwas ändert, müssen wir selber etwas tun.»
Mit «wir» meint die 26jährige die «Trotzphase». Carboni hat die Gruppe zusammen mit Berufskolleginnen und -kollegen gegründet, unterstützt von der Gewerkschaft VPOD. Sie alle sind Fachfrauen und Fachmänner Betreuung (FaBe). Und sie haben genug von den schlechten Bedingungen, mit denen sie an ihrem Arbeitsplatz, in der Kindertagesstätte (Kita), kämpfen.
Die «Trotzphase» ist zwei Jahre alt. Schon länger war Carboni aufgefallen: Gespräche mit Freundinnen, die ebenfalls in der Kita arbeiten, drehten sich häufig um die Probleme im Job: die langen Arbeitstage, den geringen Lohn, den permanenten Personalmangel. Irgendwann fanden sie: «Wir müssen machen statt motzen.» Besser würde es sonst nie. Aber das muss es dringend.
DAUERSTRESS
Wenn sie Frühschicht hatte, stand Camilla Carboni jeweils morgens um 6.30 Uhr in der Kita. Sie begann, alles für den Tag vorzubereiten. Tische, Stühle und Spiele paratzumachen, gleichzeitig kamen schon die Kleinen. Das bedeutet: hundertprozentige Aufmerksamkeit, von der ersten Minute an.
Carboni kümmerte sich um eine Gruppe von acht Kleinstkindern, die ältesten erst 2 Jahre alt. Eigentlich brauchte es dafür drei Betreuerinnen. Das zumindest steht in den Regeln der Stadt Zürich. Die Realität ist anders. Carboni: «Es kommt oft vor, dass jemand krank wird. Gerade in unserem Beruf, in dem wir jeden Tag mit Kindern zusammen sind, passiert das schnell.» Wenn Stiftinnen und Stifte Berufsschule haben, fehlen auch sie. So seien sie schnell nur noch zu zweit, oder – wenn jemand Pause habe – für kurze Zeit sogar ganz alleine.
Sobald sich die Krippenaufsicht anmeldet, sieht das dann plötzlich anders aus. Carboni sagt: «Ich habe es mehr als einmal erlebt, dass die Arbeitspläne umgeschrieben wurden, so dass wir am Tag der Kontrolle genug Leute waren.»
SPARZWANG
Doch es fehlt nicht «nur» an Leuten, es fehlt auch an Professionalität. Um Kosten zu sparen, stellen Kitas oft Jugendliche als Praktikantinnen und Praktikanten ein (siehe Box). Gewisse Kitas suchen mittlerweile auch ganz offen nach nicht ausgebildetem Personal. Etwa nach Müttern, die sich etwas dazuverdienen möchten. «Frei nach dem Motto: Wer selber Kinder hat, kann auch auf andere aufpassen», erzählt Carboni.
Wer mit Mitte zwanzig noch in der Kita arbeitet, gilt als Veteranin.
Dabei ist Kinderbetreuung nicht Babysitting, sondern pädagogische Arbeit. Carboni findet: «Dafür machen wir schliesslich eine dreijährige Lehre.» Die Kinder in ihren Stärken zu fördern und in den Schwächen zu begleiten sei eine der wichtigsten Aufgaben in ihrem Beruf. Doch leider bleibt dafür immer weniger Zeit. Denn aus Spargründen entlassen viele Kita-Betriebe Küchen- und Putzpersonal. Für die Betreuerinnen und Betreuer heisst das neben der Arbeit mit den Kindern: abwaschen, staubsaugen und Böden wischen. Die Aufgaben wachsen, die Arbeitstage werden länger, nur eins bleibt gleich: der tiefe Lohn. Der Branchenverband Kibesuisse empfiehlt einen Monatslohn von brutto 4200 Franken. Für ausgebildete Personen bei einer 42-Stunden-Woche und vier Wochen Ferien. Carboni weiss: Ausserhalb der Städte werden sogar Löhne unter 4000 Franken bezahlt.
Die Kombination aus Dauerstress und Tieflohn hat auch gesundheitliche Folgen. Weil die Erholung oft zu kurz kommt, würden viele gerne ihr Pensum senken. Leisten können sie sich das aber nicht. Deshalb machen sie Vollzeit weiter – manche bis zum Burnout. Andere wiederum ziehen früh die Notbremse. Nach der Lehre ist für viele bereits Schluss. Wer mit Mitte zwanzig noch in der Kita arbeitet, gilt deshalb schon als Veteranin.
GAV NÖTIG
Auch Camilla hat sich mittlerweile neu orientiert. Seit rund einem Jahr studiert sie Psychologie. Ihr Beruf hat sie trotzdem nicht losgelassen. Als Aushilfe arbeitet sie neben dem Studium weiter. Sie liebt ihren Job trotz allen Schattenseiten. Wenn sie über die Kinder spricht, leuchten ihre Augen: «Ich freue mich immer, die Kinder wieder zu sehen. Diese wunderbaren kleinen Menschen, die dich fordern, aber eben oft auch zum Lachen bringen.»
Auch wegen der Kinder ist es ihr wichtig, dass sich in den Kitas etwas ändert. Für Carboni und ihre Kolleginnen ist klar: Es braucht einen gut ausgearbeiteten und breit abgestützten Gesamtarbeitsvertrag. Dafür wollen sie sich zusammen mit dem VPOD einsetzen.
Wenn die Gruppe «Trotzphase» den 1. Mai gemeistert hat, stehen weitere Projekte an. Um neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen. Und um die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Eines ist für die junge Zürcherin aber klar: «Es geht uns sicher nicht darum zu sagen, dass wir die Ärmsten seien.» Als Tochter eines Monteurs und einer Dekorationsgestalterin weiss sie nämlich aus eigener Erfahrung: Auch in anderen Berufen haben Angestellte allen Grund, sich zu wehren. «Und ich freue mich über jeden einzelnen Menschen, der das tut!» sagt Carboni lächelnd. Auch darum ist ihr der 1. Mai wichtig.
Praktika: Generation Ausbeutung
Sie müssen arbeiten wie Ausgebildete, tragen viel Verantwortung und das für einen Fünfliber pro Stunde: Für Jugendliche im Praktikum ist das eine Realität. Gerade in der Kita, aber auch im Coiffeursalon und in der Pflege. Um Kosten zu sparen, wird dort oft auf junge Schulabgängerinnen und Schulabgänger zurückgegriffen. Unter dem Vorwand, sie auf die Lehre vorzubereiten.
DECKMANTEL. Für die Gewerkschaften ist klar: Hier werden Jugendliche als billige Arbeitskräfte missbraucht. VPOD-Zentralsekretärin Christine Flitner fordert deshalb: «Praktika vor der Lehre müssen endlich verboten werden. Und zwar in allen Kantonen». Um einen Einblick in den Beruf zu bekommen, reiche ein normales «Schnuppern». Ein Jahr auf eine Lehre vorbereiten müssten sich die Jugendlichen sicher nicht.
Auch Unia-Jugendsekretärin Kathrin Ziltener sieht das so. Sie kritisiert: «Immer mehr junge Menschen werden unter dem Deckmantel Praktika ausgebeutet.» Das zeigen auch die neusten Zahlen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE): Rund 33’000 aller 15 bis 24jährigen haben 2017 ein Praktikum gemacht. Das sind 11’000 mehr als noch 2010. Um diese Entwicklung zu stoppen, hat die Unia-Jugend die Kampagne #GenerationAusbeutung gestartet. Mit an Bord ist auch die Juso.