Andreas Rieger
In Deutschland streikten in den letzten Wochen Zehntausende Krankenpflegerinnen, Kehrichtmänner, Sozialarbeiterinnen, Sicherheitsleute usw. Sie haben «die Schnauze voll» von jener jahrelangen Sparpolitik, die kaum mehr Reallohnerhöhungen zuliess. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi führte diese Streikwelle an – und sie endet jetzt mit einem Erfolg für die Streikenden. Die Löhne von 2,6 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst gehen um durchschnittlich 7,5 Prozent rauf, verteilt über zweieinhalb Jahre. Die Arbeitgeber haben nachgegeben. Denn auch sie wissen, dass die lahmenden Löhne endlich raufmüssen, damit die Jobs in den Gemeinden attraktiv bleiben.
VERDI-LOGIK. Diese Lohnerhöhungen sind spürbar, auch wenn die Hälfte davon für die Teuerung draufgeht. Überdurchschnittlich profitieren die Lernenden, die Berufseinsteigerinnen und -einsteiger sowie die Fachkräfte, zum Beispiel Ingenieurinnen und Erzieher. Aber auch die untersten Lohnklassen erhalten mehr. Warum das gut ist, bringt Verdi-Chef Frank Bsirske auf den Punkt: «Gute Leute, gute Arbeit, gutes Geld – das gehört zusammen.» Vor den Beschäftigten im öffentlichen Dienst hatten in Deutschland bereits die Metallerinnen und Metaller gestreikt. Auch sie erkämpften sich Reallohnerhöhungen, von denen die Arbeitnehmenden in der Schweiz nur träumen können.
In der Schweiz brauchen wir
spürbare Lohnerhöhungen!
NZZ-LOGIK. Für die NZZ kommt Deutschland mit dieser Lohnpolitik «an die Schmerzgrenze». Das Hoforgan des Kapitals wittert allerdings gleichzeitig eine «Chance für die Schweizer Industrie»: Diese könne nun «ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern». Will heissen, wieder mehr ins Ausland exportieren. Vorausgesetzt, die Schweizer Löhne blieben unten. Nachdem die Arbeitenden bei uns also jahrelang Opfer haben bringen müssen, weil der Franken aufgebläht war, soll es jetzt gleich weitergehen im unsozialen Takt, damit die Schweizer Produkte billiger werden als die deutschen. Diese Logik können die Gewerkschaften nur radikal zurückweisen, denn auch die Arbeitnehmenden in der Schweiz brauchen spürbare Reallohnerhöhungen.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.