Andreas Rieger
Kongress des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) in Berlin: Die Delegierten freuen sich über gute Lohnabschlüsse, zuletzt im Baugewerbe mit einem Plus von 5,7 Prozent auf zwei Jahre. Gleichzeitig bewegt die Delegierten jedoch ein sozialer Skandal: «Deutschland hat Europas grössten Tieflohnsektor – eine Schande für unser reiches Land», klagten mehrere Rednerinnen und Redner. Acht Millionen Menschen schuften zu einem Tieflohn. Das sind doppelt so viele wie vor 14 Jahren. Ein Delegierter sagt: «Wir müssen klar beim Namen nennen, wer uns dies eingebrockt hat: Es war die Regierung Schröder mit Harz IV.»
Deutschland hat Europas
grössten Tieflohnsektor.
HARZ IV. Gemeint ist der SPD-Kanzler, der ab 2004 unter dem Namen Harz IV die Arbeitslosenversicherung demontierte: schnellere Aussteuerung, verschärfte Zumutbarkeit, Plünderung der Sparguthaben. Das Resultat ist desaströs: Nur noch ein Drittel der Arbeitslosen erhalten heute Versicherungsleistungen, zwei Drittel die Hungersätze von Harz IV. Diese sind noch schlechter als die Sozialhilfe in der Schweiz. Arbeitslose werden weichgeklopft, jeden Job anzunehmen. So wurde der Tieflohnsektor geschaffen, der auch jetzt bei Hochkonjunktur und sinkender Arbeitslosigkeit nicht schrumpft.
GESETZESBRUCH. Viel Hoffnung setzte der DGB in den gesetzlichen Mindestlohn. Bei seiner Einführung gab es für viele gute Lohnerhöhungen. Doch, so empört sich eine Delegierte: «Noch heute werden über eine Million Beschäftigte um den Mindestlohn betrogen. Der Staat spart bei den Kontrollen und lässt massenhaften Gesetzesbruch zu!» Der DGB fordert Tausende zusätzliche Kontrolleurinnen und Kontrolleure. Aber der gesetzliche Mindestlohn von heute 8,84 Euro ist auch zu tief. «Bei 12 Euro müsste er liegen», fordert ein Delegierter. So würde der Tieflohnsektor von unten aufgerollt. Gleichzeitig setzt der DGB auf mehr Mindestlöhne in den Tarifverträgen.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.