Es ist das Theaterereignis des Jahres: Über 100 Laien und 20 Theatergruppen aus allen Landesteilen spielen in Olten ihren Landesstreik. Premiere ist am 16. August. work hat schon jetzt mit Regisseurin Heimberg gesprochen.
AUF ZUM STREIK! Über 100 Darstellerinnen und Darsteller fügen der Erinnerung an den Landesstreik ein weiteres Kapitel an. (Foto: 1918.ch)
work: Was bedeutet Ihnen der Landesstreik persönlich?
Liliana Heimberg: Ich bin in Wimmis im Berner Oberland aufgewachsen, mein Vater arbeitete in der Pulverfabrik. Meine Mutter hingegen kam aus Italien und hatte bei ihrer Heirat mit einem Schweizer das Stimmrecht abgeben müssen. Damals hatte die Schweiz noch kein Frauenstimmrecht. Bei uns am Familientisch wurde häufig über Politik gesprochen. Ich war etwa elf, als mein Vater vom Landesstreik erzählte und zornig davon berichtete, wie die Soldaten vom Lande die Arbeit im Familienbetrieb so kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erneut aufgeben und gleich wieder einrücken mussten, um in den Städten für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Erst viel später wurde mir bewusst, dass gar nicht er als Soldat im Landesstreik im Einsatz gewesen sein konnte, sondern dass dies meinen Grossvater betroffen hatte. Mein Vater war noch nicht einmal auf der Welt gewesen. Und dennoch löste die Erinnerung an den Landesstreik noch solche starken Emotionen aus.
Warum haben Sie den Landesstreik für ein Theater ausgewählt?
Er ist eines der wichtigsten historischen Ereignisse der Schweiz. Im landesweiten Protest kristallisierten sich die Probleme der Zeit: soziale Ungleichheit, fehlende soziale Sicherheit und Partizipation. Die Gesellschaft war tief gespalten. Während des Weltkrieges war der Zusammenhalt wichtig gewesen. Die drängenden Fragen wurden unter dem Deckel gehalten. Am Tag des Waffenstillstandes brach der Landesstreik dann aus. Gestreikt haben nicht die Ärmsten, sondern jene, die etwas zu verlieren hatten. Zum Beispiel das Zugspersonal der Eisenbahn. Oder die Frauen. Da sie während des Krieges in den Fabriken die Arbeit der eingerückten Männer übernommen hatten, waren auch sie unter den Streikenden.
Liliana Heimberg. (Foto: ZVG)
SVP-Führer Christoph Blocher unterstellt dem Landesstreik-Führer Robert Grimm, dass er den Bürgerkrieg propagiert habe. Und mitverantwortlich sei für die 100 Millionen Toten in der Sowjetunion. Wie sehen Sie Grimm?
Der Leiter des Oltener Aktionskomitees war ohne Zweifel ein Charakterkopf und eine starke Figur. Aber wir sollten aufhören, im Zusammenhang mit dem Landesstreik immer nur über die Führer zu reden. In unserem Theaterprojekt lassen wir die Bevölkerung zu Wort kommen. Mich interessiert die Perspektive all jener Menschen, die 1918 vor der Frage standen: Wie verhalte ich mich? Soll ich morgen streiken, oder gehe ich trotzdem arbeiten?
Sie erzählen den Landesstreik also von unten?
In unserer Rahmengeschichte in Olten ist das Oltener Aktionskomitee natürlich ein Thema, wir beleuchten aber ebenso die Sicht der Bürgerlichen. Auch der Bundesrat und die Armee kommen im Stück vor, sie alle stehen aber nicht im Mittelpunkt. Lange Zeit wurde der Landesstreik ja als Sieg der Bürgerlichen über die Linke gesehen. Erst der Aargauer Historiker Willi Gautschi hat dieses einseitige Bild mit seinem Buch Mitte der sechziger Jahre zurechtgerückt. Aber auch wir haben mit unserem Theaterprojekt keine Deutungshoheit, wir fügen der Erinnerung an den Landesstreik lediglich ein weiteres Kapitel an. Das Theater führt verschiedene Menschen und ihre vielfältigen Erfahrungen zusammen, damit eine weitere mögliche Sicht auf die Ereignisse damals entstehen kann.
Die Trägerschaft des Theaterprojekts reicht vom Bundesamt für Kultur über die Schweizer Armee, den Schweizerischen Arbeitgeberverband bis hin zur Gewerkschaft Unia. Haben die alle mitgeredet?
Nein, es hat gar niemand reingeredet. Die Trägerschaft und ich haben von Anfang an das Gespräch mit allen Seiten gesucht. Wir wollten von der Polarisierung wegkommen und nicht wieder in das alte Links-rechts-Schema zurückfallen. Im Zentrum stand für mich immer das Theater, die Kunst. So haben wir denn auch zuerst die Kulturkommissionen der Kantone ins Boot geholt. Ziel war es gewesen, etwa ein Dutzend Theatergruppen mit eigenen Szenen aus allen Landesgegenden zu finden. Nun sind es 20 geworden! Das Interesse war gross, die lokale, die eigene Geschichte mit einzubringen. Und so sind auch alle dabeigeblieben. Das ist nicht selbstverständlich. Bei der Umsetzung habe ich freie Hand. Aber ich bin natürlich gespannt auf die Reaktionen.
«Wir sollten nicht immer nur über die Führer reden.»
Wo verläuft in Ihrem Stück die Grenze zwischen Facts und Fiction?
Die Spielerinnen und Spieler sprechen Texte, die ganz nahe am Originaltext bleiben. Diese haben wir aus Protokollen, Briefen oder Zeitungsberichten von damals zu einer Collage montiert. Die Erfindung beginnt erst bei der Inszenierung, bei der Arbeit mit den über 100 Spielenden. Wir machen kein Re-enactment des Landesstreiks. Gemeinsam in der Gruppe haben wir Bilder zu den Texten entwickelt. Wir begannen mit der Bewegung, daraus entstanden mit der Zeit die Szenen. Dabei war mir von Anfang an wichtig, Geschichten von Frauen einzubringen. Deshalb habe ich die Unterstützung von unterschiedlichen Historikerinnen gesucht. Die Frauenfiguren treten nun sehr aktiv auf, zum Beispiel Rosa Bloch, Marie Häri oder Else Spiller. Während der Proben suchte ich weiter nach speziellen Spielaufgaben für unsere jungen Frauen im Ensemble. In unserer riesigen Materialsammlung waren mir immer wieder Darstellungen der Helvetia aufgefallen. Klar, während des Krieges macht man sich ganz besonders Gedanken über das eigene Land. Wir nahmen die Diskussion in die Proben, es kamen Vorschläge der Spielerinnen dazu. Und daraus sind die Phantasiefiguren der Helvetien im Stück entstanden, von denen wir inzwischen sieben haben.
Der Historiker Stefan Keller hat Sie hinsichtlich der Fakten beraten. An welchen Stellen hat er eingegriffen?
Niemand weiss, wie der Landesstreik genau war, niemand von uns war dabei. Also fügen wir den bestehenden Interpretationen lediglich ein weiteres Kapitel hinzu, auf dem Weg zu einem vertieften Verständnis. Stefan Keller hat viele Inputs gegeben und bei der historischen Recherche enorm geholfen. Er hat die diversen Textfassungen gelesen, ist jetzt bei den Proben anwesend und bringt, wo nötig, aus historischer Sicht einen Einwand an. Zum Beispiel in Bezug auf die Proteste am 5. November 1918 auf dem Fraumünsterplatz in Zürich. Da war es ihm wichtig, dass offenbleibt, wer damals einen Schuss abgegeben hat, der zum Tod eines Menschen führte. Denn man weiss das bis heute nicht mit Sicherheit.
Wie lange arbeiten Sie jetzt schon an dem Projekt?
Ich befasse mich seit fünf Jahren intensiv mit dem Landesstreik. Ich habe sehr viel darüber gelesen, bekam jede erdenkliche Unterstützung von über 10 Historikerinnen und Historikern. Die Inszenierung schöpft somit aus einem grossen Fundus von Wissen, zu einem überwiegenden Teil aus jüngsten Forschungen.
«Die Frauenfiguren treten im Theater sehr aktiv auf.»
Die alte Hauptwerkstätte hier in Olten ist eindrücklich. Die gedämpften Farben,
die Trägersäulen mitten im Raum … Warum dieser Ort?
Die Halle hat eigentlich das Konzept für das ganze Theater vorgegeben. Das ganze Gelände ist ein Zeitzeuge und bringt somit von sich aus Geschichten in die Theaterarbeit ein. Die Säulen kann man verschieden interpretieren. Sie können ebenso die Stützen der Gesellschaft symbolisieren, behindern aber hie und da auch den Blick. So, wie wir auch heute noch nicht alles zum Landesstreik sehen können, was spätere Forschungen erbringen werden. Die Fenster hingegen erlauben einen gewissen Durchblick. Und die Bahngeleise in der Halle, die können uns woanders hinbringen.
Die Eisenbahn spielte auch beim Landesstreik eine wichtige Rolle, denn erst mit dem Streik der Eisenbahner wurde der Streik im ganzen Land spürbar. Auch der Standort Olten als Verkehrsknotenpunkt ist für das Stück wichtig. Nicht nur, weil hier das Oltener Aktionskomitee gegründet wurde, sondern auch, weil die Stadt aus der ganzen Schweiz gut erreichbar ist. Die Regierung von Olten hatte damals keine Freude, dass Olten dem Komitee, das für die Streikleitung zuständig war, den Namen gegeben hatte. Sie befürchtete, es würde den guten Ruf der Stadt ruinieren.
An jeder Vorstellung beteiligen sich auch zwei Gastkantone. Was machen die?
Die 20 Gruppen aus den Kantonen bringen eine Geschichte aus ihrer Region und somit eine weitere Perspektive ins Thema Landesstreik ein. Sie brechen in den Theaterabend ein, so wie der Streik auch in den Alltag der Menschen eingebrochen war: Plötzlich stand alles still, die Post kam nicht mehr, die Soldaten mussten wieder einrücken und so weiter. Man musste sich neu orientieren.
20 Gruppen, 100 Spielerinnen und Spieler, eine riesige Halle, das braucht fast schon eine generalstabsmässige Organisation. Kennen Sie eigentlich alle Mitwirkenden?
Selbstverständlich. Die mitwirkenden Laien haben sich alle intensiv mit dem Thema befasst, und viele von ihnen wissen inzwischen historisch enorm gut Bescheid. Ich hätte mir ein Theater zum Landesstreik nicht anders vorstellen können als mit Laiinnen und Laien: 250 000 Personen legten die Arbeit nieder. Unternehmer, Bauern, Regierung, Militär, Frauen, Männer, Kinder, niemand konnte sich den Ereignissen entziehen. Die Spielerinnen und Spieler stehen somit als Vertreterinnen und Vertreter für Menschen wie du und ich auf der Bühne. Der Landesstreik von damals hätte auch uns betroffen.
100 Jahre Landesstreik: Mega-Theater & Feier
Am 10. November 1918, es war ein Sonntag, schlossen sich die Eisenbahner dem Generalstreik an. In der Nacht entschied das Oltener Aktionskomitee, den unbefristeten Streik auszurufen. Von der damaligen Hauptwerkstätte der SBB beim Bahnhof Olten steht heute nur noch ein Rest, der aber noch immer riesig ist. In dieser spektakulären Halle spielt ab 16. August bis 23. September das Theaterprojekt «1918.CH». 20 Theatergruppen mit 200 Spielerinnen und Spielern aus allen Landesteilen machen bei der Grossproduktion von Liliana Heimberg mit.
In denselben SBB-Räumen in Olten findet am Samstag, 10. November, auch der grosse
Landesstreik-Jubiläumsanlass statt. Er wird vom Gewerkschaftsbund, der Sozialdemokratischen Partei und der Robert-Grimm-Gesellschaft getragen. Ab 14 Uhr: dreisprachiges Programm mit Bläserensemble, Perkussion und Chor. Originaltexte vom 100jährigen Streik und Berichte von Kolleginnen und Kollegen zu Streiks der jüngsten Zeit. Verpflegung zu historischen Preisen! Reservation nötig. Alle Infos unter: www.generalstreik.ch
Zum Jubiläum hat der Gewerkschaftsbund auch eine illustrierte Broschüre über den neusten Forschungsstand zum Generalstreik zusammengestellt: «100 Jahre Landesstreik. Ursachen, Konfliktfelder, Folgen». Die Broschüre können Sie als PDF herunterladen unter: www.generalstreik.ch/publikationen.